Das Leben von Justus Binder war nicht immer einfach gewesen. Als Kind schwer asthmakrank, waren ihm beide Eltern bei einer Schiffsreise weggestorben, als der dumme Kahn nach einer Kollision mit einer Jacht, deren Besitzer dem plötzlichen Herztod nichts entgegenzusetzen hatte, untergegangen war. Er selbst, damals noch ein Baby, war glücklicherweise in einem Schlauchboot gelandet und hatte diese unangenehme Angelegenheit ohne einen Kratzer überlebt. In den folgenden Jahren, von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht, war es Justus schwer gefallen, irgendwo Fuß zu fassen. Manche mochten seinen bohrenden Blick nicht, andere fühlten sich durch seine ständigen Fragen genervt. Andere wiederum versuchten ihn nach nur kurzer Zeit wieder abzuschieben und begründeten dies mit einem Schulterzucken und dem Hinweis, dass irgendetwas mit diesem Jungen nicht stimme.
Justus wuchs in einem System auf, das es kinderlosen Eltern ermöglichte, elternlose Kinder zu adoptieren. Gleichzeitig jedoch unterstützte dieses System die Rückgabe dieser Kinder, sollte sich herausstellen, dass das Ergebnis doch einigermaßen von ihren Vorstellungen abwich. So kam Justus die ersten zehn Jahre seines Lebens einigermaßen herum und hoffte jedes Mal, wenn er neue Eltern gefunden hatte, dass es diesmal von Dauer sein würde. Bis diese ihn schaudernd und vor Ekel gebeutelt wieder in das Heim zurück brachten, von wo sie ihn aufgegabelt hatten.
Dabei war es gar nicht sein Aussehen, das ihn so ungreifbar unsympathisch machte. Er war blond, hatte graugrüne Augen und Sommersprossen. Es war vielmehr, als würden Menschen in seiner Nähe ein ständiges Gefühl von Unheil verspüren, oder ein innerliches Unwohlsein bemerken, das sich jedes Mal regte, wenn Justus im gleichen Raum war. Ganz so, als wäre er ein toter Fisch, eine Schlange oder irgendein Insekt, das wütend herumbrummte und nur auf eine Gelegenheit wartete, zuzustechen.
Unzählige Pflegeeltern später, hatte auch das Heim die Hoffnung aufgegeben, jemals Eltern für Justus zu finden. Die Leiterin selbst verstand es nur allzu gut, wenn das nächste Paar den Jungen angewidert zurückbrachte und sofort das Weite suchte. Seine Anwesenheit löste auch bei ihr stets eine unangenehme Gänsehaut aus. Durch die ständige Wiederholung der Vermittlungen, jahrein, jahraus, bildete sich in ihr jedoch eine gewisse Abgebrühtheit, die es ihr irgendwann ermöglichte, halbwegs normal mit Justus umzugehen. Nicht dass sie ihn mochte, Gott bewahre! Sie achtete immer sorgfältig darauf, dass sie genügend Abstand zu ihm einhielt, damit er nicht auf die Idee kam, ihr die Hand zu geben oder sie gar zu umarmen. Einmal, als die Betreuerinnen bereits heimgegangen waren, stand Justus abends plötzlich vor ihrem Büro und bat sie, ihn nochmal zuzudecken. Widerwillig brachte sie den Jungen ins Bett, deckte ihn schnell zu und schloss sich danach schnell in ihrem Zimmer ein, wo sie die nächste Stunde damit verbrachte, sich im Bad heißes Wasser über den Körper plätschern zu lassen, um die innere Kälte loszuwerden.
Nein, leicht hatte es Justus auf keinen Fall als Kind.
Als Jugendlicher änderte sich sein Leben nicht im Geringsten. Verzweifelte Eltern, die unbedingt ein Kind haben wollten, hielten sich eher an die jüngeren Semester und je mehr Zeit verging, desto seltener fanden sich Unwissende, die Justus mit nach Hause nehmen wollten.
Er selbst hatte damit irgendwann überhaupt kein Problem mehr. Er wusste, dass er anders war als die anderen Kinder, die ihn mieden wie die Pest. Er lernte, Zeit mit sich selbst zu verbringen und entdeckte irgendwann die fabelhafte Welt der Bücher für sich. Zunächst in Kinderbücher vertieft, fand er seinen Weg jedoch sehr schnell zu diversen literarischen Schwergewichten wie Dickens, Tolstoi, Hemingway, Joyce, Proust und sogar Kafka und verlor sich zur Gänze in ihrer Welt. Das ging so lange, bis er ihrer müde wurde und über einen Zufall ein Buch von Stephen Hawking in die Finger bekam. Das Heim, das durch großzügige Spenden diverser Unternehmen eine Bibliothek beherbergte, die für diese Art von Einrichtung äußerst ungewöhnlich war, verfügte über zahlreiche Bücher zu nahezu jedem Thema. Justus verbrachte die nächsten Jahre in der Gesellschaft von Einstein, Galilei, Kepler und Hubble und fraß sich durch Heerscharen von Büchern wie ein ausgehungerter Wurm durch einen reifen, prallen Apfel, während sein Gehirn all die Informationen wie ein Schwamm aufsog und in den entsprechenden Teilen ablegte.
Eines Tages, kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag, rief ihn die Heimleiterin zu sich ins Büro. Justus legte ein Buch, das sich mit schwarzen Löchern befasste, zur Seite und folgte ihr stumm den Gang entlang zu ihrem Büro. Dort sah er ihr zu, wie sie etwas schneller als nötig um den schweren Eichentisch herumging, um sich in ihrem großen Ohrensessel niederzulassen. Stumm deutete sie auf den vor dem Schreibtisch stehenden, leeren Stuhl. Justus setzte sich und sah sie neugierig an. Er war für sein Alter immer noch erstaunlich klein und sah viel mehr nach 14 oder 15 Jahren aus und nicht wie ein Achtzehnjähriger. Das kindliche Gesicht war ihm geblieben, aber seine Züge waren deutlich männlicher geworden, wie unschwer an seinem markanten Kinn zu erkennen war. Die Leiterin musterte ihn kurz und merkte bereits die ersten Schauer, die sie überfielen wie rumänische Straßenhunde nichtsahnende Parkbesucher. Sie atmete kurz durch, straffte ihre Körperhaltung und sah ihn so freundlich an, wie es ging, ehe sie endlich sprach.
“Justus, du wirst uns in Kürze verlassen.”
Justus kniff die Augen zusammen und stutzte, während sein Hirn nach links und rechts abbog und er versuchte krampfhaft, die Information zu verarbeiten, die ihm gerade gegeben wurde. Als er sich sicher war, dass es sich dabei nur um einen Irrtum handeln konnte, lächelte er freundlich, was der Heimleiterin, die seinem Gedankengang logischerweise nicht folgen konnte, weitere Schauer den Rücken herunter jagte.
“Nein”, begann er zögerlich, “Ich möchte hier nicht weg. Ich will hierbleiben.”
Die Heimleiterin seufzte und verbrachte die nächste halbe Stunde damit, ihm zu erklären, dass es in Einrichtungen wie diesen üblich war, selbige mit dem Eintritt ins achtzehnte Lebensjahr zu verlassen, um fortan auf eigenen Beinen zu stehen. Der Junge blickte die ältere Dame währenddessen entsetzt an und richtete bei der Bemerkung mit den eigenen Beinen tatsächlich den Blick auf seine eigenen Füße.
“Aber wo soll ich denn hin?”, kam schließlich leise die Frage, die ihm zuallererst in den Kopf schoss, als er sich langsam darüber im Klaren zu sein begann, dass seine Zukunft doch ganz anders aussehen würde, als er vor Kurzem noch gedacht hatte. In seiner Fantasie wollte er sein gesamtes Leben in diesem Heim verbringen, um so viel Wissen wie möglich in sich aufzunehmen, um dann irgendwann als alter Mann still und heimlich im Schlaf zu sterben.
“Wir helfen dir natürlich, eine gute Stelle zu finden und auch deine eigenen vier Wände wirst du mit unserer Hilfe bekommen”, versuchte die Heimleiterin Justus aufzumuntern, dessen Gesichtszüge in den letzten Minuten immer mehr in Richtung Verzweiflung und Elend abgedriftet waren.
“Eine Stelle”, wiederholte Justus flüsternd. Entsetzt stellte er fest, dass sie damit einen Beruf meinte, dem er fortan folgen würde müssen. Er musste ja irgendwie Geld verdienen, um sich Nahrung zu kaufen und eben auch sonst alle Dinge, die man so brauchen würde. Während die Heimleiterin ihm erklärte, wie gut die Beziehungen des Heims zu allen möglichen gewerblichen Arbeitgebern in der Nähe waren, erkannte Justus sofort, dass ihm durch diese Tätigkeit ein Löwenanteil seiner Zeit fehlen würde, um sich Wissen anzueignen. Und es kam sogar noch schlimmer – wenn er nicht mehr hier wohnen würde, hätte er auch keinen Zugriff mehr auf die Bibliothek!
“Aber die Bücher”, krächzte Justus schließlich, während sich seine Augen füllten.
“Die Bücher?”, fragte die Heimleiterin. “Ich verstehe nicht”.
Justus stand auf und begann langsam davon zu erzählen, welchen Stellenwert Bücher in seinem Leben hatten. Selbstverständlich war dies seit Langem bekannt und die Leiterin musste schmunzeln, als sie feststellte, dass der Junge scheinbar noch nie etwas von öffentlichen Bibliotheken gehört hatte. Für ihn schien es der Weltuntergang zu sein, von all diesem unerforschten Wissen getrennt zu sein und es erfüllte sie ein wenig mit Freude, diesem seltsamen Jungen von der Existenz der in der ganzen Stadt verstreuten Buchhandlungen und Bibliotheken zu erzählen, deren Sortiment das des Heims um ein Vielfaches übertraf.
Oh, die Freude, die Freude! Justus sprang lachend auf und fragte mehrere Male nach, ob es wirklich wahr war und drehte sich, nachdem er ebenso oft die Versicherung erhalten hatte, dass es tatsächlich stimmte, freudig im Zimmer herum, wie ein toll gewordener Derwisch. Es würde nun doch alles gut werden! Glücklich wandte Justus den Kopf nach oben und schloss dankbar die Augen. Einem plötzlichen Impuls folgend, stolperte er schließlich um den großen Eichentisch herum und umarmte die Heimleiterin, die vor Schreck aufgesprungen war und abwehrend die Arme von sich hielt, mit all seiner Kraft.
Kinder sind sich manchmal ihrer eigenen Kraft nicht bewusst. Justus war da keine Ausnahme. Seine natürliche Statur war nicht weiter auffällig, aber in dem Jungen schlummerten Kräfte, die ihm letzten Endes bereits als Baby das Leben gerettet hatten, als er es tatsächlich aus eigener Kraft geschafft hatte, sich mit seinen kleinen Babyfingern an den Seilen des Schlauchbootes festzuhalten, zu dem er gekrochen war, nachdem seine Eltern mit dem Kopf voran über die Reling gesegelt waren. Ebenso war Justus nie in die Verlegenheit gekommen, sich mit den anderen Kindern im Heim prügeln zu müssen, da niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte. Ihm fehlte somit jegliche Referenz zu seiner Kraft. Ja, gelegentlich hatte er sich im Stehen mit einer Hand an der Stange festgehalten, die an der Oberseite seines Bettes befestigt gewesen war und daran einhändig hochgezogen, während seine zweite Hand das Buch hielt, auf dessen Seiten seine Augen wissbegierig starrten. Aber es handelte sich eben nur um eine gedankenverlorene Aktion, so wie das Kratzen am Ohr oder das Nasebohren.
Es half nichts – niemand hatte ihm jemals bestätigt, über welch außerordentliche Körperkraft er verfügte.
Das Geräusch, das seine Umarmung verursachte, verwirrte Justus kurz und erinnerte ihn an das Knacken und Krachen von Salzbrezeln, wenn man hineinbiss. Der nicht mehr allzu junge Körper der Heimleiterin bog sich durch, während Justus’ eiserne, unerbittliche Darstellung von Zuneigung ihr jeden Knochen im Oberkörper brach und seufzend schied sie von dieser Welt, mit dem letzten Funken Energie noch eine Gänsehaut fabrizierend, die sie in die ewigen Jagdgründe begleitete.
Justus hielt sie so lange umarmt, bis er sich wieder beruhigt hatte. Seine schiere Körperkraft hatte den zarten Körper der älteren Heimleiterin mühelos aufrecht gehalten und so war es für ihn eine außerordentlich große Überraschung, als ihr Körper leise zu Boden glitt, wo er regungslos liegen blieb. Stirnrunzelnd ging Justus neben ihr in die Knie und stupste sie mehrmals an. Als er das Blut bemerkte, das aus ihrem Mund und der Nase tropfte, wich er erschrocken zurück. Er hatte genug medizinische Bücher gelesen, um zu wissen, dass das kein gutes Zeichen war. Justus wollte dem ersten Impuls nachgeben und sofort um Hilfe schreien, aber plötzlich hielt er inne, drehte seine Handflächen nach oben, sah sie an und blickte dann wieder zu dem toten Körper seiner Heimleiterin. Justus hatte auch genug Bücher über Kriminologie gelesen, um zu wissen, dass er in dieser Sache vermutlich als Mörder verurteilt werden würde, wenn es auch möglicherweise nur um versehentlichen Totschlag ging. So oder so, er war kein Kind mehr und in ein paar Tagen würde er achtzehn Jahre alt sein und den schweren Hammer der Justiz mit voller Wucht zu spüren bekommen.
Die nächsten Stunden bereitete Justus seine Flucht vor. Er hob den Leichnam im Büro auf, als wäre es eine Schaufensterpuppe und stopfte ihn in die Besenkammer. Als ein Bein sich standhaft weigerte, Platz für die Tür zu machen, trat Justus genervt drauf und brach es beim Schienbein durch. Das so schmiegsam gemachte Bein passte nun perfekt hinter den Putzkübel und Justus konnte leise die Tür zur Besenkammer schließen. Er packte in seinem Zimmer seine Siebensachen in einen kleinen Lederkoffer mit Riemen, den er aus dem Zimmer der Heimleiterin stahl, und holte sich auch noch alles an Bargeld, das er in ihrem Büro finden konnte. Danach begab sich Justus direkt in die Bibliothek, wo er die nächste Zeit damit verbrachte, sich zu entscheiden, welche Bücher er mitnehmen würde. Endlich war auch diese Aufgabe vollbracht.
Die Nacht war kühl und neblig, aber das machte Justus nichts aus. Er knöpfte seinen Mantel zu, schulterte den Lederkoffer und erfreute sich an den kleinen Dampfwölkchen, die sein Mund erzeugte. Der Mond zeigte ihm den Weg in die Stadt, wo er sich zuerst mal in eine McDonald’s-Filiale begeben würde, um einen Cheeseburger zu essen. Davon hatte er in einem Kriminalroman gelesen und der Gedanke erregte ihn über alle Maßen.
Fröhlich vor sich hin summend, spazierte Justus in eine ungewisse Zukunft und freute sich auf seinen Burger. Und vielleicht einen Milchshake.
Ja. Ein Milchshake klang gut.