“Kemal kann uns das bestimmt an der Tafel zeigen.”
Dass jemand während des Unterrichts meinen Namen nennt, heißt im Normalfall nichts Gutes. Ich sitze in der dritten Reihe und starre gedankenverloren in den grauen Himmel hinaus. Es ist Samstagvormittag, und ganz als ob mir irgendeine höhere Macht den Auftakt des Wochenendes so richtig vermiesen möchte, haben wir Physik in der letzten Stunde. Die Lehrerin mit ihrem lesbischen Kurzhaarschnitt sieht mich aus hasserfüllten Augen an und hält ein Stück Kreide in meine Richtung. Ich habe nicht den geringsten Tau, worüber sie in der letzten halben Stunde geredet hat, und ich habe auch nicht die geringste Lust, mich von ihr vor der gesamten Klasse runtermachen zu lassen. Ich schüttle also mit hochrotem Gesicht stumm den Kopf und senke meinen Blick, bis mir diese furchtbare Person schnaufend ein weiteres Minus in ihr Mitarbeitsheft einträgt und weiter über Elektronen, Protonen, Kanonen oder Melonen referiert. Ein kurzer Blick in die Klasse beweist mir, dass kaum noch jemand dem Unterricht folgt und alle gedanklich schon längst im Wochenende angekommen sind.
Das schrille Läuten der Pausenglocke sorgt innerhalb von Sekunden für einen ohrenbetäubenden Lärm, während sich meine Klassenkollegen lauthals zusammenpacken und mit ihren halbangezogenen Jacken, die Schulrucksäcke nur an einem Riemen über die Schultern gehängt, aus dem Klassenzimmer stürmen, als gäbe es ein Feuer. Ich räume mein Physikheft in meinen Rucksack und spüre die heißen Blicke meiner Physiklehrerin an mir haften. Sie kann mich wirklich nicht ausstehen, dabei bin ich in ihrem Unterricht ganz brav und störe nie. Ganz anders in anderen Fächern, wo ich ständig den Clown spiele und es zu meiner Hauptaufgabe gemacht habe, den Unterricht so oft und so gekonnt wie möglich zu unterbrechen. Ich ziehe meine Jacke an, hänge mir den Rucksack um und verlasse das Klassenzimmer. Dabei spüre ich den stummen Hass meiner Lehrerin auf meinem Rücken.
Scheiß drauf! Scheiß auf sie! Wochenende is!
Vor dem Schulgebäude tummeln sich mal wieder alle, und die Lautstärke ist kurz davor, einen neuen Rekord aufzustellen. Wie Menschen in der Umgebung einer Schule wohnen können und wollen, ist mir absolut schleierhaft. Ich hätte bei diesem Kinderlärm schon längst jemanden erschlagen. Wir stehen also vor der Schule herum und tauschen kurz Informationen aus, wer wann wo was mit wem macht. Gelegentlich geht der eine oder andere auch mit einem Schulkollegen mit nach Hause, um den Nachmittag dort zu verbringen. Auch jetzt beginnen wieder Gespräche, die in diese Richtung abzielen. Ehe einer das Wort an mich richten kann, habe ich in die Runde genickt und mache mich wortlos aus dem Staub.
Jemand soll mit zu mir nach Hause kommen? Ich lache kopfschüttelnd, während ich auf der Rossauer Lände langsam in Richtung Friedensbrücke spaziere.
Selbstverständlich gehe ich gerne zu anderen nach Hause. Die paar Freunde, die ich habe, haben alle ihr eigenes Zimmer. Und nicht nur das: auch ihre Geschwister und Eltern haben alle eigene Zimmer. Ihre Wohnungen sind groß und hell und schön eingerichtet und riechen nach Raumspray. Bei mir daheim riecht alles nach Zigaretten und dem Essen meiner Mutter. Ein eigenes Zimmer habe ich nicht; ich teile mir das Wohnzimmer mit meinen drei Geschwistern und schlafe auf einer ausziehbaren Couch. Das geht natürlich erst dann, wenn der Besuch, der uns eigentlich jeden Abend unangekündigt heimsucht, sich endlich verpisst. Dann heißt es: die beiden Couchen ausziehen und die Matratzen aus dem Vorzimmer auf dem Teppichboden ausrollen. Den Gestank der Dutzenden gerauchten Zigaretten der letzten Stunden bekommt man jedoch nicht aus dem Zimmer, egal wie lange das Fenster geöffnet bleibt.
Warum sollte ich also nochmal jemanden zu mir nach Hause bringen? Damit er sieht, in was für einem Loch ich hause? Nein, danke.
Ich überquere die Friedensbrücke, kreuze den Fu.g.ngerübergang und gehe langsam die Wallensteinstraße entlang Richtung Klosterneuburger Straße. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite tummeln sich Menschen beim Löwa-Supermarkt wie Bienen am Eingang eines Bienenstocks. Bier um ein paar Schilling, Extrawurst im Angebot, drei Pico-Bello-Schuhpolier-Sticks zum Preis von zwei – so Sachen halt. Hier beginne ich mir langsam Gedanken über meinen Einkauf in der Mondo-Filiale bei der Staudingergasse zu machen. Ich habe ganze fünfzehn Schilling in meiner Hosentasche, und ich beabsichtige, sie so gewinnbringend wie möglich in Sü.igkeiten und Knabbereien zu investieren. Mitte der Achtziger sind fünfzehn Schilling wahrlich kein Reichtum, aber immer noch genug Geld, um sich zwei oder drei Dinge zu gönnen.
Bei der Klosterneuburger Straße passiere ich den Eingang der S-Bausparkasse, laufe, als die Fußgängerampel halbrot zeigt, noch schnell über den Zebrastreifen, betrete die Mondo-Supermarkt-Filiale mit entschlossenem Gesichtsausdruck und begebe mich schnurstracks zu den Süßigkeiten. Ich habe gelernt, nicht lange zu zögern, weil das im Grunde alles nur verkompliziert. Ein guter Plan im Vorfeld hilft, gezielt einzukaufen und innerhalb von wenigen Minuten wieder draußen zu sein. So auch dieses Mal. Ich kaufe eine Stange Maoam-Kaubonbons, eine Packung Double Dip (Kirsch- und Orangenpulver mit einer Zuckerstange zum Dippen) und einmal billige Neapolitaner-Schnitten (schmecken scheiße, aber kosten noch weniger). Das Ganze geht sich genau aus mit meinen finanziellen Mitteln, und während ich nach meinem Einkauf genüsslich auf einem Kirsch-Maoam herumkaue, spaziere ich langsam an einer Anker-Filiale, einem Juwelier, dem Modegeschäft Gabriel, einer Delka-Filiale, einem Elektrofachgeschäft (hier haben wir unseren geilen Nordmende-Fernseher und Video-2000-Rekorder her) und einer Erste-Bank-Filiale vorbei, ehe ich in die Hannovergasse einbiege. Beim Gasthaus Zekl sitzen bereits mittags ein Haufen Menschen im Schanigarten, und auch beim Wirten, der auf der anderen Seite an unser Wohnhaus angrenzt, hocken sie bereits auf den Sesseln im Schanigarten und geben sich mit weißen Spritzern und Krügerln die Kante. Vor dem Haustor angekommen, hole ich meine Wohnungsschlüssel aus der Hosentasche und sperre das Haustor auf.
Heute ist Samstag. Das bedeutet, dass ich zwar früher Schule aus habe, aber leider wartet daheim noch Arbeit auf mich. Wir bewohnen zu sechst eine Hausmeisterwohnung. Diese ist, wie bereits erwähnt, nicht nur klein, sondern bringt auch zusätzliche Verpflichtungen mit sich. Verpflichtungen, die meine Eltern nur zu gerne auf ihre Kinder abwälzen. Während also mein Vater samstags im Kaffeehaus sitzt, Tee trinkt und Karten spielt, und meine Mutter sich mit dem Haushalt abzustrampeln scheint, übernehmen wir Kinder die lästigen Reinigungsarbeiten im Haus. Wenn ich sage „wir Kinder“, dann meine ich damit aber eigentlich eh nur meine Schwester und mich. Mein ältester Bruder hat für diese Art von Firlefanz überhaupt nichts übrig und zieht es vor, seine Samstage auf eine sinnvollere Art und Weise zu verbringen. Immerhin ist er schon über 20, und diese Art von Freizeitbeschäftigung scheint sich so gar nicht mit seiner Vorstellung von Wochenendprogramm vereinbaren zu lassen. Mein zweiter Bruder ist mal wieder abgängig. Mein Vater hat ihn vor zwei Tagen wegen einer Lappalie halbtot geprügelt, und er hat beschlossen, sich ein paar Tage aus dem Staub zu machen. Dass ihn bei seiner Rückkehr vermutlich eine weitere, katastrophale Tracht Prügel erwartet, scheint ihn nicht davon abgehalten zu haben, sich aus dem Staub zu machen. Ich kann es ihm aber auch nicht verdenken. Die Fäuste unseres Vaters sind erbarmungslos, hart und zielsicher.
Bleiben also nur meine Schwester und ich. Heute muss das gesamte Stiegenhaus zusammengekehrt werden, nächste Woche ist dann wieder meine Schwester mit Aufwaschen dran. Seufzend betrete ich unsere kleine Wohnung und trete sofort in eine Wolke aus Zigarettenrauch und Knoblauchdampf.
Ah, meine Mutter kocht Kuttelsuppe!
Ich schlüpfe aus meiner Jacke, wasche mir die Hände in unserem kleinen Bad und setze mich sofort an den Esstisch in der Küche. Meine Mutter hat meine Ankunft mit einem stummen Nicken quittiert, und als wenige Sekunden darauf mein Vater in die Küche kommt und sich hinsetzt, füllt sie die Teller mit Bergen von Essen voll und stellt sie uns vor die Nase. Scheinbar essen wir heute nur zu dritt, keine Spur von meinen Geschwistern.
„Hast du deinen Bruder gesehen?“, fragt mich mein Vater leise nach ein paar Bissen.
Ich überlege kurz, welchen Bruder er meinen könnte, entscheide mich dann, mit „Nein“ zu antworten; immerhin stimmt das für beide. Er nickt kurz und isst weiter. Meine Mutter fragt mich über meinen Tag in der Schule aus, und ich gebe ihr meine vorbereiteten Antworten, die sie im Grunde überhaupt nicht interessieren. Sie macht „aha“ und „mhmm“ und konzentriert sich mehr auf ihren Teller als auf meine Antworten. Da läutet plötzlich das Telefon. Das schrille Geräusch lässt uns alle kurz zucken, und wir werfen uns gegenseitig fragende Blicke zu, als würde das auch nur das Geringste nutzen. Schließlich steht meine Mutter seufzend auf und geht um die Ecke ins Vorzimmer. Ich höre, wie sie den Hörer abnimmt und fragt, wer es ist. Stille, dann Schnaufen. Sie legt den Hörer neben das Telefon und kommt zurück in die Küche.
„Ein Freund von dir“, sagt sie genervt und deutet hinter sich. Ich stehe auf und gehe ins Vorzimmer.
„Sag deinen Freunden, sie sollen nicht immer anrufen, wenn wir essen!“, knurrt mein Vater mit vollem Mund. Ich frage mich, wie ich dieser Aufforderung sinnvoll nachkommen soll, ignoriere sie dann aber komplett, hebe den Hörer auf und halte ihn an mein Ohr.
„Hallo?“
„Servus! Raimund hier.“
Raimund ist mein bester Freund. Vor zwei Jahren waren wir noch in der gleichen Klasse. Dann musste ich wegen Mathe und Englisch wiederholen, und jetzt ist er eine Klasse über mir.
„Was gibt’s?“, frage ich kauend.
„Was machst heut? Kommst zu mir? Oder sollma in den Augarten gehen?“
Ich überlege kurz. Augarten ist cool, aber Raimund hat einen Haufen Spielsachen und einen nagelneuen Commodore 64 daheim und eben ein eigenes Zimmer. Ich bin geneigt, bei ihm daheim abzuhängen.
„Kann zu dir kommen. Hast neue Spiele?“
„Ein paar“, antwortet er, ebenfalls kauend. Scheinbar essen sie auch zu Mittag. „Und ein paar neue Clever und Smart und Lucky-Luke-Heftln.“ Ich höre, wie er nebenbei in seinem Stapel Comichefte herumkramt.
„Okay, bin in einer Stunde da“, verspreche ich ihm und lege auf.
Ich gehe zurück zum Esstisch und setze mich hin. Meine Mutter hat mich belauscht, wie immer, und weist mich darauf hin, dass ich noch das Stiegenhaus zusammenkehren muss. Irgendetwas an der Art und Weise, wie sie mir diese Information zukommen lässt, nervt mich über alle Maßen, und ich grunze ihr eine grenzwertig unfreundliche Antwort zu, die meinen Vater kurz innehalten lässt. Er sieht mich aus seinen stechenden Augen stumm an, und ich sehe ihm ganz genau an, dass er mit Müh und Not den Drang unterdrückt, mir seinem Handrücken eine über das Gesicht zu pfeffern. Meine drei Geschwister hätten nicht so viel Glück gehabt; ich habe da gottseidank eine andere Stellung in der Familie. Nesthäkchen eben. Er grummelt mir zu, dass ich aufessen und mich ums Stiegenhaus kümmern soll, und ich komme diesem Wunsch auf der Stelle nach.
Mit einem Besen bewaffnet stehe ich fünf Minuten später bei der Tür des Dachbodens im vierten Stock, verfluche Gott und die Welt und frage mich, was ich getan habe, um dieses elende Schicksal zu verdienen. Nicht nur, dass ich kein eigenes Zimmer habe und in dieser kleinen Dreckswohnung hausen muss wie ein Zigeuner – nein, ich werde auch noch zur Kinderarbeit gezwungen! Hat mich jemand gefragt, ob ich in einer Hausbesorgerwohnung wohnen und das Stiegenhaus zusammenkehren möchte? Nein, mich hat niemand gefragt! Ich wurde nur gezeugt, um Scheiße für meine Eltern zu erledigen!
Ich schimpfe still und leise vor mich hin und bringe mich so in einen Zustand der Rage, der mich die Arbeit, die ich die nächste dreiviertel Stunde absolviere, einfach vergessen lässt. Mit hochrotem Kopf und komplett verschwitzt und eingestaubt stehe ich irgendwann im Hof und kehre einen Riesenhaufen Dreck auf eine Schaufel, die ich dann gewissenhaft im Müllcontainer entsorge. Ein Blick auf meine billige LCD-Uhr am Handgelenk zeigt mir, dass ich noch eine knappe Viertelstunde Zeit habe, um bei Raimund aufzuschlagen.
Ich knalle Besen und Schaufel daheim in eine Ecke, wasche mir Hände und Gesicht, schnappe mir meine Jacke und bin aus der Wohnung, ehe ich genau hören kann, was mir meine Mutter nicht laut genug hinterherschreit. Ich könnte natürlich zurückgehen und nachfragen, was sie will. Tu ich aber nicht. Ich habe meine Schuldigkeit getan. Wie ich sie kenne, sind ihr noch unzählige Dinge eingefallen, die ich vom Hannovermarkt, vom türkischen Import-/Export-Shop oder vom Supermarkt holen muss: Brot oder Sucuk oder Joghurt oder Butter oder Eier oder Tomatenmark oder was weiß der Teufel!
Nein, nein. Mit mir nicht!
Ich fege die Treppen hinunter und bin aus dem Gebäude, ehe meine Mutter Zeit genug hat, die Wohnungstür aufzureißen und mir ihre Einkaufsliste hinterherschreit.
Hahaha! Gut gemacht!
Raimund wohnt nicht weit weg von mir. Ich muss zur Klosterneuburger Straße und diese dann bis zum Gaußplatz laufen. Dort biege ich in die kurze Württemberggasse, die direkt am Donaukanal liegt, und dort ist mein bester Freund dann auch schon zuhause.
Die nächsten Stunden vertreiben wir uns die Zeit in Raimunds Zimmer. Wir spielen eine Zeitlang Spiele auf seinem C64, bis wir entnervt feststellen, dass wir sie niemals zu Ende spielen werden. Danach arbeite ich mich durch seine neuen Comichefte, wir trinken literweise Cola und hören uns „Die Großen 10” mit Udo Huber auf seiner kleinen Stereoanlage an, die er letzte Weihnachten geschenkt bekommen hat. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf das Gerät und frage mich zum wiederholten Male, wieviel man für so etwas wohl hinblättert. Tausend Schilling? Zweitausend? Unfassbar, dass es Leute gibt, die so viel Geld übrig haben, um es für solche Dinge auszugeben.
Als uns der Gesprächsstoff ausgeht, sehe ich wieder auf meine Armbanduhr und beschließe, nach Hause zu gehen. Nicht dass ich dort weiß Gott was zu tun hätte, und wie ich unsere Bekannten kenne, tummeln sich wieder Horden von Menschen bei uns daheim und essen und rauchen und lachen und trinken Tee und sind laut. Ich verabschiede mich von Raimund, ziehe meine dreckigen Turnschuhe an und verlasse die Wohnung.
Als ich danach langsam in Richtung Hannovergasse spaziere, frage ich mich erneut, was mein flüchtiger Bruder wohl gerade macht. Wo er ist und mit wem er sich herumtreibt. Einmal war er eine ganze Woche weg, und als er plötzlich wieder daheim auftauchte, war er komplett verdreckt und stank wie ein Abfallkübel. Seufzend denke ich darüber nach, warum das alles so laufen muss und warum unsere Familie nicht einfach so sein kann, wie die meiner Freunde. Da sind alle nett zueinander und haben Spaß und respektieren sich und unternehmen Dinge. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich meine Eltern jemals gefragt hätten, ob ich Bock auf einen Spaziergang habe oder einfach nur ein paar Runden „Mensch ärgere dich nicht” spielen möchte. Türkische Familien funktionieren anders. Sobald man mehrere Kinder hat, ist es die Aufgabe der Älteren, auf die Jüngeren aufzupassen und sie zu bespaßen. Mein Vater arbeitet die ganze Woche schwer auf der Baustelle und abends kommt er komplett fertig heim, pfeffert seine Tasche in die Ecke und zieht es vor, mit niemandem zu reden und sich ausschließlich seiner Zeitung und seinen Zigaretten hinzugeben. Meine Mutter arbeitet tagsüber in der Küche einer Creditanstalt-Filiale, und daheim kocht sie und macht die Wäsche und kümmert sich eben so gut es geht um den Haushalt. Da bleibt nicht viel Zeit für Kinder.
Immer noch in Gedanken sperre ich das Haustor auf und schleiche in den ersten Halbstock, wo wir wohnen. Vor der Wohnungstür bleibe ich kurz stehen und höre lautes Gerede von mindestens zwanzig Personen. Ich kann den Zigarettenrauch förmlich durch die Tür riechen. Meine Laune sinkt ins Bodenlose, und ich mache auf dem Absatz kehrt und verlasse das sorgfältig gekehrte Stiegenhaus durch das große, weiße Haustor.
Wieder auf der Straße angekommen, beschließe ich, einfach eine Zeitlang durch die Gegend zu spazieren. Es ist Herbst, und die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Das spielt bei uns aber keine wirklich nennenswerte Rolle. Meine Eltern haben nie eine Ahnung, wo sich ihre Kinder herumtreiben, Hauptsache, nachts sind alle da und noch am Leben. Ich schlendere die Hannovergasse in Richtung Hannovermarkt und setze mich dort auf eine Parkbank beim Fußballkäfig. Einige ältere Kids pfeffern einen alten Fußball in der Gegend herum, und ich sehe ihnen dabei zu, wie sie lauthals diskutieren, ob das nun ein Tor war oder nur die Stange. Mein Blick wandert rüber zur Gerhardusgasse, wo zwei Schulkollegen von mir wohnen. Beide heißen Markus. Natürlich haben auch sie beide ihr eigenes Zimmer. Was sie wohl gerade tun? Die nächste Stunde verbringe ich damit, mir vorzustellen, ich hätte ein eigenes Zimmer, und in Gedanken richte ich mir das großartigste Kinderzimmer ein, das es jemals gegeben hat. Ich habe einen Plattenspieler mit großen Boxen, einen eigenen Computer, auf dem ich stundenlang Spiele zocken kann, und ein riesiges Bett, das ich mit niemandem teilen muss und das tagtäglich fix und fertig gemacht darauf wartet, dass ich mich müde hineinfallen lasse, um Bücher oder Comics zu lesen. Gelegentlich schaut meine Mutter vorbei und bringt mir Snacks, die ich verschlinge, als hätte ich tagelang nichts gegessen. Nichtstun macht eben hungrig.
Als ich wieder in der Realität ankomme, ist es bereits finster. Erschrocken schaue ich auf meine Uhr. Scheiße, schon kurz vor 19 Uhr! Ich springe auf und laufe durch die geschlossenen Stände des dreckigen Hannovermarkts zurück nach Hause. Alles ist grau und dunkel, und es nieselt leicht, und als ich vor unserem Haus ankomme, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als fort zu sein. Irgendwo, wo die Sonne scheint. Wo Freude herrscht und alle lachen und miteinander Spaß haben. Wo man gefragt wird, was man denn heute so getan hat. Nicht aus Pflichtbewusstsein, sondern aus aufrechtem Interesse. Wo es Umarmungen gibt und Küsse und miteinander kuscheln und sich lieb haben.
Aber so viel Glück habe ich nicht. Es ist eben, wie es ist. Hoffentlich wird es, wenn ich erwachsen bin, anders sein. Vielleicht sind meine Eltern glücklicher, wenn sie ihre Kinder aus dem Haus haben und sich wieder auf sich konzentrieren können, nicht dass sie das nicht jetzt schon tun. Aber irgendwie scheinen sie ständig unglücklich zu sein. Speziell mein Vater. Vielleicht fällt es uns allen irgendwann leichter, ein schönes, sorgenfreies Leben zu führen und Dinge anders zu regeln, als das meine Eltern getan haben. Ich schwöre mir in diesem Moment, dass ich, sollte ich jemals Kinder haben, sie niemals sich selbst überlassen werde. Dass ich mich kümmern und Interesse an ihnen zeigen werde. Sie niemals schlagen und dafür sorgen werde, dass aus ihnen großartige Menschen werden, die sich dem Leben gut gewappnet stellen werden können.
Aber bis dahin wird es noch eine Weile dauern. Seufzend sperre ich das Haustor auf und gehe widerwillig zu unserer Wohnungstür. Ich lege kurz mein Ohr an die Tür und höre kaum irgendwelche Geräusche. Gut. Scheinbar ist der Besuch wieder weg. Mir fällt ein, dass heute „Wetten, dass..?“ im Fernsehen läuft, und meine Laune hebt sich augenblicklich. Ich werde es mir mit meinen Süßigkeiten auf der Couch bequem machen und dabei zusehen, wie fremde Menschen hirnrissige Dinge tun, damit wir alle ein wenig vergessen, was der Alltag für ein Arschloch ist. Ich atme ein paar Mal tief durch.
Dann öffne ich die Wohnungstür und trete ein.