Es ist Montag und ich stehe frühmorgens im Vorzimmer. Meine Frau schlüpft in ihre Sneakers und erzählt mir kurz und knapp, wie ihr Tag verlaufen wird. Ich nicke an den richtigen Stellen und mache Oh und Ah. Meine Tochter wirbelt in den Raum und zeigt mir stolz ihre neuen Ohrstecker, an denen kleine, neongelbe Blitze hängen.Ich bewundere sie stumm und zwinkere ihr zu. Sie schlüpft in ihre kleinen Nikes, wirft eine Baseballjacke über, streift sich ihren, gefühlte zwei Tonnen wiegenden, Rucksack über, wirft meiner Frau und mir schmatzend Kusshände zu und ist durch die Wohnungstür geflitzt, ehe eine von uns irgendetwas erwidern kann.
Nachdem sich meine bessere Hälfte vor dem Spiegel die Frisur, den Schal und den Mantel gerichtet hat, kommt sie zu mir rüber und sieht mich seufzend an. Ich erwidere ihren Blick aus traurigen Augen und schließlich nimmt sie mein Gesicht mit beiden Händen und drückt mir einen langen, von Herzen kommenden Kuss auf die Lippen.
“Bitte iss etwas”, sagt sie vorwurfsvoll. Ich nicke stumm.
“Ich mein’s ernst.” Ich nicke erneut.
Ein weiteres Mal rattert sie ihr heutiges Programm herunter, ich habe es mir sogar schon fast richtig gemerkt. Der letzte Punkt lautete ‘Wir sind um 18 Uhr da’.
“Wir sind um 18 Uhr da”, wiederholt sie meine Gedanken und ich nicke auch hier pflichtbewusst.
Sie hängt sich ihren Arbeitsrucksack um und umarmt mich schnell, ehe auch sie die Wohnung verlässt. Ich winke ihr nach, schließe langsam die Wohnungstür und gehe ins Wohnzimmer, wo ich mich auf die Couch setze.
Essen soll ich. Kopfschüttelnd frage ich mich, wann es wieder so weit sein wird. Obwohl ich in den letzten Tagen kaum feste Nahrung zu mir genommen habe, verspüre ich nicht den geringsten Hunger. Wasser, Tee und Kaffee haben mir in letzter Zeit alle Nährstoffe geboten, die ich brauche. Denke ich zumindest. Meine weichen Knie sprechen da eine ganz andere Sprache. Essen. Ich schließe meine brennenden Augen und reibe sie so lange mit den Knöcheln meiner Hand, bis Blitze in alle Himmelsrichtungen abgefeuert werden. Danach sitze ich eine Zeit lang halbblind auf der Couch und höre den Heizkörpern unter dem Fenster beim Gluckern zu.
Essen.
Einer Laune nachgebend stehe ich auf und hole meinen Zigarren-Humidor aus dem Schrank. Ich habe ihn vor einigen Wochen aufgefüllt und Zigarren in allen möglichen Längen und Brauntönen lächeln mir aufmunternd durch die Scheibe an der Oberfläche zu. Ich drehe den Kopf um auf die Uhr an der Wand zu sehen, sie zeigt dreiviertel acht.
Scheiß drauf.
Ich schnappe mir eine kurze, dicke Rocky Patel Edge Corojo B52 und stelle den auf Hochglanz polierten Humidor zurück in den Schrank. Dann noch schnell den Cutter und mein Jet-Feuerzeug geschnappt und einige Momente später sitze ich bereits auf dem Balkon und halte mir die Flamme unter die Spitze meiner Zigarre, die ich zuvor fachmännisch mit dem Cutter getrimmt habe. Ich paffe und paffe und paffe und schließlich bin ich zufrieden.
Wer behauptet, man könne frühmorgens keine Zigarren rauchen, hat keine Ahnung von Genuss.
Während blauer Rauch um meinen Kopf wabert, lehne ich mich zurück und ziehe mir die Baumwolldecke fester um die Schultern. Es ist zwar schon Ende März, aber morgens zischen einem hier immer noch ordentlich Winde um die Ohren. Ich paffe genussvoll an meiner Zigarre und lasse meinen Blick über die Landschaft vor meinem Balkon wandern. Der Himmel ist hellblau, da und dort schreien sich Vögel krächzend den Frust über ihr sinnloses Leben aus ihren kleinen Körpern und in der Nähe brummt irgendwas und ich kann mir nicht so recht erklären, was dieses Geräusch verursachen könnte.
Die nächste Stunde verbringe ich in diesem Zustand des Nichtstuns auf dem Balkon und stelle mir diverse Fragen.
Wie es jetzt weitergehen soll. Oder ob ich etwas anders hätte machen können. Oder wann ich wieder essen werde. Oder wie es meiner Mutter geht. Oder warum das alles passieren musste. Das frage ich mich überhaupt am Meisten. Die Antwort ist aber immer die gleiche.
Er war alt. Er war krank. Er mochte keine Ärzte.
Traurig paffe ich an meiner Zigarre, deren Rauch mein Gesicht liebevoll zu trösten versucht. Aber Trost finde ich keinen. Und dann macht sich plötzlich auch noch eine Übelkeit in meinem Magen breit, die mich mehrmals tief durchatmen lässt. Ich lege den Stummel meiner Rocky Patel in den Aschenbecher und gehe schnell durch das Wohnzimmer in Richtung Klo. Die letzten Schritte nehme ich laufend und mit einigem Schwung landet mein Gesicht in der Klomuschel, wo gelbe Flüssigkeit mit einem lauten Klatschen auf Porzellan trifft und mir sofort zurück ins Gesicht spritzt. Ich würge so lange, bis ich glaube, meine Rippen würden brechen. Feste Nahrung habe ich seit letzter Woche keine mehr im Bauch, nur mehr bittere, erbarmungslose Magensäure. Irgendwann hört die Würgerei dann endlich auf und ich wische mir den Mund mit etwas Klopapier ab und lehne mich keuchend an die Klowand.
Nun fällt mir auch wieder ein, warum man auf leeren Magen keine Zigarre raucht. Erste und wichtigste Regel.
Irgendwann rapple ich mich stöhnend auf und schleppe mich wieder auf meinen Platz am Balkon. Den Mund verziehend stelle ich den Aschenbecher mit dem Rest meiner Zigarre ans andere Ende und wickle mich wieder fest in meine Decke ein. Ein kurzer Blick in den Himmel – immer noch hellblau, die Vögel schreien immer noch und selbst das Brummen ist nach einer kurzen Pause wieder da. Alles gut.
Dass ich aktuell nichts mit mir anzufangen weiß, ist vermutlich die Untertreibung des Jahres. Vor über einer Woche habe ich meinen Vater in der Türkei begraben und irgendwie schaffe ich es seitdem nicht so richtig, wieder Anschluss an den Alltag zu finden. Nichts macht Spaß, nichts macht Sinn. Ist es wirklich das, worauf wir alle hinarbeiten, ohne es zu ahnen? Das große, dunkle Nichts, das uns alle am Ende unserer Reise erwartet? Wozu das alles? Stirnrunzelnd erkenne ich, dass ich mir zum ersten Mal Gedanken über den Sinn des Lebens mache. Wie konnte ich so alt werden, ohne das jemals zu hinterfragen? Nicht mal beim viel zu frühen Tod meines Bruders vor drei Jahren habe ich meine Existenz infrage gestellt.
Nichts macht Spaß. Nichts macht Sinn.
Ich kann mich nicht auf meinen Job konzentrieren, der mir eigentlich immer Spaß gemacht hat. Ich habe keine Lust, irgendjemanden zu treffen oder auszugehen. Ich will nicht ins Kino oder auswärts in Restaurants essen. Da wären wir wieder beim Thema.
Essen.
Etwas, das mich den Großteil meines Lebens begleitet und mir immer viel Freude bereitet hat, ist von einem Moment auf den nächsten so gut wie sinnlos geworden. Wozu kochen? Wozu der Aufwand? Brot, Wasser, danke. Tut es genauso. Als die Sonne es schafft, mir zwischen einigen Wolken gelbe Strahlen aufs Gesicht zu malen, lehne ich mich zufrieden zurück und sauge das Gefühl der Wärme mit meiner Haut auf. Durch meine Augenlider sehe ich orange-rote Muster und ich rolle so lange mit meinen Augäpfel hin und her, bis mir erneut übel wird. Schnell öffne ich meine Augen wieder und atme tief ein und aus.
Wo war ich? Achja.. Essen. Ich gehe meine Erinnerungen durch, auf der Suche nach dem Gericht, das ich meinem Vater zuletzt gekocht habe. Mehrmals pro Woche sah ich bei meinen Eltern vorbei und versorgte sie mit Nahrungsmitteln und dem einen oder anderen Gericht. Auch wenn er nicht immer alles gut fand, tat er zumindest so, als würde es ihm schmecken. Was war nur das letzte Essen? Grübelnd durchforste ich meinen Speicher und schließlich habe ich es.
Nudeln mit Schafskäse.
Traurig schüttle ich den Kopf, als mir klar wird, dass das letzte Essen, das mein Vater je von mir gegessen hat, so etwas Banales war. Kein tolles Fleisch- oder Fischgericht. Keine seiner Leibspeisen. Ein Kindergericht. Während sich meine Augen füllen, denke ich an den Tag zurück. Stress in der Arbeit, spät bei meinen Eltern, keine Zeit, keine Zeit, also etwas kochen, das schnell geht. Ich schließe meine Augen und sehe ihn vor mir, wie er den ersten Bissen kaut – schmatzend und nickend, seine Version einer Bestätigung.
Nudeln und Schafskäse. Leck mich doch am Arsch.
Tränen tröpfeln aus meinen geschlossenen Augen und ich lasse sie. Beim Begräbnis stand ich so unter Schock, dass ich zu keiner Gefühlsregung fähig war. Mir war jedoch klar, dass sich die Schleusen über kurz oder spät noch öffnen würden. Dass dies wegen Nudeln der Fall sein würde, hätte ich mir jedoch nicht gedacht. Das warme Licht der Sonne versucht mir die nassen Wangen zu trocknen, aber das will nicht so recht gelingen. Ich mümmel mich in meine Decke ein und lege mich flach auf die Bank. In dieser Stellung schlafe ich schließlich ein.
In der gleichen Stellung schrecke ich plötzlich hoch. Da ist jemand an der Tür! Stolpernd haste ich durch die Balkontür in Richtung Vorzimmer und als es dann nur unser chinesischer Postbote ist, der mir irgendein Paket für die Nachbarn in die Hände drückt, bin ich sauer und erleichtert zugleich. Ich schließe die Eingangstür, lege das Paket neben mir ab und versuche, meine zitternden Knie soweit zu beruhigen, dass normales Gehen wieder realistisch erscheint.
Jetzt reiss dich verdammt nochmal zusammen!
Die Stimme in meinem Kopf ist sauer. Zu Recht, finde ich. Es wird langsam Zeit, dass ich mich aus diesem Loch ziehe, in dem ich seit dem Tod meines Vaters zentimeterweise versinke.
Genug!
Das Leben geht weiter. Und das wird es so lange, bis es auch für mich irgendwann endet. Aber soweit bin ich noch nicht. Ich ohrfeige mich einige Male und schreie meinen Unmut so lange heraus, bis ich kaum noch Luft bekomme. Lachend schüttle ich schließlich den Kopf und bin dankbar dafür, dass mich niemand so sieht. Man sperrt Leute in manchen Ländern wegen weniger Spinnereien ein und wirft den Schlüssel in einen Gulli. Ich sollte mich wirklich nicht so gehen lassen.
Essen!
Genau! Ich werde mir etwas zu essen machen!
Als ich in der Küche vor dem Kühlschrank stehe und den Inhalt inspiziere, springen in mir sofort Motoren an, die dafür sorgen, dass meine Hände Gegenstände von da nach dort schieben und andere herausnehmen, um sie auf der Arbeitsplatte daneben abzustellen. Bißchen was von dem, ein wenig hiervon, da noch Garnelen, dort noch Sojasauce. Ein Rattern beginnt in meinem Kopf und führt dazu, dass mein Autopilot endgültig die Kontrolle übernimmt. Die nächste Stunde fege ich durch die Küche, mit einigen Ausflügen in Kühlschrank, Tiefkühler und Speis. Ich schäle, schnipple und reibe mir die Seele aus dem Leib. Das Gefühl in meinem Bauch entwickelt sich dabei von einem anfänglichen Kribbeln über ein strenges Ziehen bis hin zu einem monströsen Grummeln. Himmel, Arsch und Zwirn – ich habe Hunger! Eine Stunde später sitze ich am Küchentisch, vor mir eine riesige, dampfende Portion Pad Thai mit Garnelen. Ich betrachte mein Kunstwerk eine Weile, schnappe mir schließlich die daneben liegenden Stäbchen und mache mich an die Arbeit.
Während ich mir eines meiner Lieblingsgerichte einverleibe, denke ich viel über meine Familie nach. Vor allem über meinen Vater. Er war ein schwieriger Mensch und lebte seine “Zero Tolerance für Bullshit”-Art konsequent bis zum Ende. Viele Szenen poppen in meinem Kopf auf und ich verbringe die nächsten zwanzig Minuten in der Vergangenheit. Als ich jeden Krümel auf meinem Teller verschlungen habe, lehne ich mich seufzend zurück und schließe die Augen, während ich mich dem schwindenden Geschmack in meinem Mund hingebe.
Essen.
Schön, dich wieder zu haben.