„Ich sag’ dir, es ist wirklich nicht leicht, hier zu überleben.“ Die Stimme meines Bruders klingt gedrückt, beinahe resignierend.
„Komm schon“, versuche ich es lahm. „Das wird schon wieder. Ist ja jedes Jahr so, oder? Die Touristen kommen eben nicht jedes Jahr gleich stark. Mal so, mal so. Geht bestimmt bald wieder los, dann kannst du auch mehr verkaufen.“
Ich merke, wie er ansetzt, mir die gleichen Fakten noch einmal zu erzählen. Dass das Wetter in Antalya momentan scheiße ist. Dass die kürzlich stattgefundenen, terroristischen Angriffe in Antalya urlaubsfreudige Gäste davon abhalten, in die Türkei zu fliegen, und vor allem, dass er dadurch kein Geld machen kann. Schließlich seufzt er und scheint akzeptiert zu haben, dass er bei mir heute nicht durchdringt.
„Was treibst du denn so? Was tut sich in Wien?“ Er hustet kurz.
Ich erzähle ihm belangloses Zeug. Ja, alles gut. Ja, alles wie immer. Ich will im Grunde nur das Telefonat beenden. Meine kleine Tochter steht vor mir, pitschnass und mit einem fröhlichen Grinsen im Gesicht. Ich halte mir den Zeigefinger an die Lippen, um ihr zu signalisieren, dass sie nicht reden soll, und bringe das Telefonat mit meinem Bruder nach ein paar weiteren Floskeln zu einem Ende.
„Ist alles okay bei dir?“ fragt er noch schnell. „Du klingst irgendwie komisch.“
Ich schlucke kurz und versichere ihm, dass alles in Ordnung ist. Wir versprechen uns, dass wir bald wieder miteinander telefonieren, und ich lege auf.
Ich richte mich auf der Liege auf und mein Kind erzählt mir, wie großartig sie das Hotel findet und wie schön der Urlaub ist. Ich lächle sie an und begleite sie in den Pool, wo wir uns die nächste halbe Stunde Wasser ins Gesicht spritzen.
Während des Abendessens bin ich einigermaßen still. Meine Frau bemerkt das, und zum zweiten Mal an diesem Tag fragt mich jemand, ob bei mir alles okay ist. Die Wahrheit ist, dass ich es nicht wirklich weiß. Mein Gewissen macht mir zu schaffen.
Wir befinden uns nämlich tatsächlich in Side und verbringen unseren Urlaub in einem Fünf-Sterne-All-Inclusive-Resort. Side, die Stadt an der Südküste der Türkei, nicht weit von Antalya entfernt. Side, die Stadt, die ich schon lange mal besuchen wollte. Die Stadt, in der mein Bruder lebt. Dem ich nichts von unserem Urlaub erzählt habe.
„Erzähl mir doch nochmal, warum du ihm nichts davon gesagt hast, dass wir kommen,“ bemerkt meine Frau, die eindeutig bemerkt hat, was mir zu schaffen macht. Sie hatte mich bereits vor Monaten darauf hingewiesen, dass wir in Side ja dann auch meinen Bruder besuchen könnten. Aber ich habe ihr davon abgeraten, weil ich wusste, dass er unseren Urlaub hijacken würde und sich das Programm die ganze Woche dann ausschließlich um ihn drehen würde. Aber das hier ist auch mein Urlaub. Also schien es mir nur recht, ihm gegenüber nichts zu erwähnen, damit wir diesen All-Inclusive-Trip genießen können.
Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.
„Ich hab’ dir doch erklärt, wie das gelaufen wäre, wenn ich ihm gesagt hätte, dass wir kommen,“ erkläre ich meiner Frau schließlich lahm, nachdem ich mir unnötig lang den Mund mit meiner Stoffserviette gewischt habe. Sie antwortet nichts darauf, ihr Blick ist Beweis genug. Sie weiß, dass ich mich schlecht fühle.
„Ja, ihm aber ein oder zwei Tage zu widmen, wäre nicht der Weltuntergang gewesen,“ antwortet sie tadelnd, und ein weiterer Stich in meiner Brust sorgt dafür, dass ich unmerklich zusammenzucke.
Ich verstehe, dass sie so denkt. Sie muss sich fragen, was sie da für einen herzlosen Menschen an ihrer Seite hat. Verständlich. Aber sie kennt meinen Bruder nicht so, wie ich ihn kenne. Ja, er hat ein großes Herz und würde alles für mich tun. Aber er hat auch Angewohnheiten und Charakterzüge, die mir sehr schwer aufstoßen. Allem voran die Art, mich zu hundert Prozent zu beanspruchen. Sich komplett in mein Leben hineinzureklamieren, ohne Rücksicht auf mich oder meine Familie. Ich werfe einen Blick auf meine entzückende kleine Tochter. Sie sitzt am Esstisch, nagt knurrend an einer Hühnerkeule herum und scheint den großartigsten Urlaub ihres Lebens zu genießen. Das ist für mich Beweis genug, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ohne die Bemerkung meiner Frau zu kommentieren, stehe ich schließlich seufzend auf, hole mir Berge von Wassermelonenstücken vom Buffet und stopfe sie einzeln in mich hinein, bis ich beinahe platze.
Als wir abends im Zimmer sind und meine Mädels schlafen, schleiche ich mich auf den Balkon hinaus und stelle mich, nur mit Boxershorts bekleidet, in die kühlende Brise. Dass ich nicht schlafen werde, war mir den ganzen Tag schon klar. Aber drauf geschissen, schließlich bin ich im Urlaub – pennen kann ich morgen den ganzen Tag am Pool, während die Damen sonnenbaden. Ich lehne mich gegen das kalte Balkonfenster und blicke aufs Meer hinaus. Wir hatten wirklich Glück mit diesem Hotel, alles ist großartig. Das Zimmer, das Personal, der Pool, der Strand, und das Essen? Meine Fresse, das Essen! Ein weiterer Stich in der Brust lässt mich kurz zusammenzucken, als ich mich daran erinnere, was mein Bruder mir erzählt hat.
Dass die Geschäfte schlecht gehen und er aktuell nicht mal Geld hat, um Essen zu besorgen.
Und ich sitze hier in einem Fünf-Sterne-Resort und stopfe mir das Gesicht mit so viel Essen voll, dass es für zehn Leute reichen würde.
Ich reibe mir seufzend die Stirn und frage mich zum wiederholten Mal, wie ich das alles hätte anders lösen können. Vielleicht hätte ich ihm sagen können, dass wir nur drei Tage hier sind? Oder ihm klarmachen können, dass ich auch Zeit für meine Familie brauche? Oder ihm einfach Geld geben, damit er sich und seiner Familie etwas zu essen kaufen kann?
Ich setze mich auf den kleinen weißen Plastikstuhl, den man auf allen Hotelbalkons der Welt finden kann und stütze meinen Kopf mit beiden Händen. Wut beginnt in mir aufzuflammen. Ob sie gegen meinen Bruder oder mich gerichtet ist, kann ich nicht wirklich erkennen. Mir geht einfach nur furchtbar auf den Senkel, dass ich hier in meinem Sommerurlaub nachts auf dem Balkon sitze und zulasse, dass mich Gewissensbisse auffressen.
‘Aber das hat er nicht verdient’, höre ich die imaginäre Stimme meiner Frau in meinem Kopf. Ich sehe durch den leichten Stoff des Vorhangs ins Zimmer zurück und sehe sie friedlich im Bett schnarchen.
“Ich weiß, dass er das nicht verdient hat”, flüstere ich mir selber zu. “Aber ich wollte einfach nur einen schönen Urlaub mit euch verbringen.”
‘Den hätten wir doch auch mit ihm haben können”, bohrt die Stimme meiner Frau nach. Nicht mal wenn sie schläft, bin ich vor ihren messerscharfen Kommentaren sicher.
“Nein, hätten wir nicht”, seufze ich erneut. “Du hast ihn ja noch nie getroffen und kennst ihn nicht. Wir hätten nur mehr nach seiner Pfeife getanzt”
Die Stille, die auf meine Aussage folgt, hilft nicht wirklich. Kopfschüttelnd frage ich mich, ob es ein geeigneter Zeitpunkt wäre, wieder mit dem Rauchen anzufangen, aber der Gedanke, widerlichen Rauch zu inhalieren, ist so absurd, dass ich nervös kichere. Schließlich stehe ich stöhnend auf und lehne mich gegen die Balkonbrüstung. Die angenehme Brise streicht mir über den Nacken und ich schließe leise summend meine Augen und genieße die zärtlichen Liebkosungen des Windes.
Als ich die Balkontür hinter mir schließe, ist es bereits drei Uhr morgens. Meine Mädchen liegen laut schnarchend in ihren Betten und träumen, wenn ich ihre zufriedenen Gesichtern richtig interpretiere, von fliegenden Brathenderln und Limonade–Bächen. Mein Herz fliegt ihnen zu und ich schlüpfe schnell und leise zu meiner Frau und schmiege mich an ihren warmen Körper.
Meine letzten wachen Gedanken gelten immer noch meinem Bruder.
Ja, es war die richtige Entscheidung. Auch wenn es die falsche war.
Anders kann ich es wirklich nicht sagen. Zufrieden nickend gebe ich mich dem Schlaf hin, der endlich über mich herfällt wie eine gelangweilte Perserkatze über eine Maus.