„Erklär mir den Unterschied zwischen einer Konvex- und einer Konkavlinse.“
Ich blinzle, als mir ein Schweißtropfen ins offene Auge rinnt. Es ist Ende Mai, heiß und ich stehe an der Tafel, wo mir meine Physiklehrerin gleich zu Beginn meiner mündlichen Prüfung zwischen vier und fünf unmißverständlich zu verstehen gibt, dass sie mich allemachen wird.
Mein Blick wandert seitlich an der Wand hoch und bleibt am Vorhang hängen. Konkavlinsen. Konvexlinsen. Eine von den beiden ist nach außen gewölbt, die andere nach innen. Der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, welche wie aussieht.
„Ich warte.“
Schweiß strömt weiter aus meinen Poren und rinnt mir den Rücken herab. Ich senke meinen Blick, sehe meiner Lehrerein ins Gesicht und versuche herauszufinden, was ich getan haben könnte, um sie gegen mich aufzubringen. Das Weib kann mich auf den Tod nicht ausstehen. Ich öffne den Mund um wenigstens irgendetwas von mir zu geben, doch ehe ich einen Mucks machen kann, knallt sie ihre flache Hand auf den Lehrertisch.
„Das ist doch wirklich unglaublich! Du kannst nicht einmal die einfachsten Fragen beantworten! Setz dich! Nicht genügend!“
Überrascht sehe ich auf meine Digitaluhr. Um 10.56 bin ich zur Tafel rausgetreten, jetzt ist es 10.58. Das dürfte neuer Weltrekord sein. Die Hände zu Fäusten geballt verlasse ich das Pult und schlurfe zu meinem Platz retour. Einige meiner Klassenkollegen werfen mir mitleidige Blicke zu, andere lachen mich stumm aus. Ich erreiche meinen Tisch und setze mich langsam hin. Die ganze Zeit über höre ich die Stimme meiner Physiklehrerin, die sich darüber ausläßt, wie asozial es nicht ist, unvorbereitet zu einer mündlichen Prüfung anzutreten.
Ich würde ihr gerne weh tun. Meine Hand wandert ins Fach wo meine Finger das Aluminium-Lineal finden.
Sie hält allen einen Vortrag darüber, dass eine gründliche Vorbereitung auf Prüfungen oder Schularbeiten unabkömmlich seien, um eine Klasse positiv abzuschließen. Dass ich ein lebendes Beispiel dafür sei, wie sie es ganz bestimmt nicht machen sollen.
Ich würde ihr gerne mit diesem Lineal solange ins Gesicht dreschen, bis ihr die Haut in Fetzen runterhängt.
Sie schimpft, was für ein schlechter Schüler ich sei. Dass sie es eigentlich gar nicht fassen kann, wie ich es überhaupt in die dritte Klasse geschafft habe. Dass ich noch nie eine Prüfung bei ihr positiver als „Genügend“ abgeschlossen habe. Um das zu unterstreichen, sieht sie in ihren Unterlagen nach und nickt bestätigend, als sie meine Noten findet.
Ich würde gerne schreien. Einfach schreien, bis ich nicht mehr kann. Diese Frau hat vor mich fertigzumachen. Und so wie es aussieht, wird sie es auch schaffen.
Ich will schreien, weil ich dem nichts entgegenzusetzen habe.
Ich will schreien, weil ich sie so abgrundtief hasse, aber genau weiß, dass ich nichts gegen sie unternehmen kann.
Ich will schreien, weil ich das alles hier hasse, aber gefangen bin. In meinem Leben. Mit all diesen Arschlöchern.
Müde lehne ich mich zurück und schließe die Augen. Während die Lehrerin weiter schwadroniert was für ein Versager ich bin, denke ich mir Wege aus, ihr Schmerzen zuzufügen.
Unzählige Varianten, sie bluten zu lassen.
Sie zum Schreien zu bringen.
Das beruhigt mich und blendet ihre verhasste Stimme aus.
Und irgendwann lächle ich.