Golem

Als ich den dunklen Gang entlang gehe, überkommt mich das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Ich bleibe stehen und werfe einen schnellen Blick über meine Schulter. Ich höre das leise Flackern von Flammen, sehe aber niemanden. Da ist keiner, sage ich leise zu mir, unmöglich, dass sich da einer verstecken kann. Der Gang ist an die fünfzig Meter lang und ich bin an keiner einzigen Tür vorbeigekommen, die Platz zum Verkriechen bieten würde. Während ich beruhigt weitergehe, frage ich mich zum wiederholten Mal, was ich eigentlich in diesem Gebäude zu suchen habe. Während das Flackern lauter wird, wechselt die Beleuchtung von einem zarten Rosa in ein kräftiges Orange, aber ich sehe keine einzige Lichtquelle, die dafür verantwortlich sein könnte. Der Wagenheber in meiner rechten Hand zieht meinen Arm immer stärker hinunter, mir kommt vor, dass das Ding mit jedem Meter, den ich zurücklege, 500 Gramm an Gewicht gewinnt. 

Dann endlich – eine Tür am Ende des Korridors!

Ich beschleunige meine Schritte, um endlich dieser seltsamen Umgebung zu entkommen. Meine rechte Hand öffnet sich mehrere Male, ohne dass der schwere Wagenheber aus Metall herausfallen würde. Ich quittiere diese ungewöhnliche Erkenntnis mit einem überraschten Schnaufen und dann stehe ich endlich vor einer massiven, roten Tür ohne Klinke. An der Wand daneben befindet sich ein roter Klingelknopf, darüber ein Post-it, auf den jemand mit krakeliger Schrift “Auf keinen Fall unbedingt läuten!” geschrieben hat. 

Ich packe den Wagenheber daraufhin mit beiden Händen und beginne die Tür erbarmungslos in Stücke zu hauen. Mit jedem donnernden Schlag, der sich in die Holzsplitter frisst, wird das Geräusch von lodernden Flammen lauter und scheint näher zu kommen. Als ich das Schloss endlich zertrümmert habe, gleitet der Rest der Tür leise quietschend auf. Ich drehe mich ein letztes Mal um und als ich die brennende Fratze eines riesigen Golems auf mich zustürzen sehe, wuchte ich beide Arme nach oben und lasse mich fallen.

Die ruckartige Bewegung befördert mich mit einem Satz aus dem Bett und ich lande grunzend mit dem Gesicht auf dem Teppich.

Was. Zum. Teufel?!

Ich benötige ein wenig Zeit, bis mein unter Strom stehendes Gehirn verarbeiten kann, was soeben passiert ist. Obwohl mir klar geworden ist, dass ich mal wieder in den Genuss eines haarsträubend verstörenden Traumes gekommen bin, bleibe ich noch eine zeitlang auf meinem Gesicht liegen und gebe mich dem Schmerz hin, den meine plattgedrückte Nase auf dem Teppich verursacht. Als mir meine Blase vorsichtig zu verstehen gibt, dass sie kurz davor steht zu Bersten, drücke ich mich seufzend hoch, schüttle mit geschlossenen Augen meinen Kopf und tappe im Finsteren aus meinem Zimmer.

Ich habe mir irgendwann angewöhnt, die Augen nachts geschlossen zu lassen, wenn ich aufs Klo gehe. Erstens sehe ich sowieso nichts im Dunkeln und zweitens suggeriere ich meinem Hirn auf die Art, dass ich noch schlafe, was mir zum späteren Zeitpunkt im Bett sehr in die Hände spielt. Immerhin benötige ich so nach meinem nächtlichen Klogang keine 30 Sekunden, ehe ich im Bett wieder einschlafe. Meine Hände sind zaghaft ausgestreckt und leise tapsen meine Fußsohlen über den Fußboden, während mich meine innere Landkarte zielsicher durch die dunkle Wohnung führt, bis ich schließlich im Vorzimmer stehe. Hier knipse ich dann, mehr aus Gewohnheit als Notwendigkeit, das schwache Licht an und gleite, nachdem ich die Klotür einen Spalt geöffnet habe, flink in den finsteren kleinen Raum neben der Eingangstüre. Ich ziehe meine Pyjamahose herunter, setze mich hin und erleichtere mich. Alles perfekt choreografiert, ohne dass auch nur ein einziger Tropfen daneben geht. Weil es gar so gemütlich ist, bleibe ich ein wenig länger sitzen als nötig. Mit geschlossenen Augen. Dümmlich grinsend, wie mir meine Geschwister, die mich des Öfteren schlafend gesehen haben, oft versichern. 

Als schon lange kein einziger Tropfen mehr zu kommen scheint, schüttle ich mein bestes Ding lange genug ab, ziehe meine Hose hoch, betätige die Spülung und verlasse das Klo. Ich drehe mich um und schließe die Tür hinter mir und als da plötzlich der Golem mit flammendem Gesicht und schmelzendem, stinkendem Fleisch hinter der Tür auftaucht, verlässt mein Geist für den Bruchteil einer Sekunde meinen Körper und ich beginne unter spastischen Zuckungen zu schreien, als hätte mich jemand in eine tausend Meter tiefe Schlucht gestoßen. Das lodernde Ungetüm springt auf mich zu, packt mich mit seinen glühenden Pranken und brüllt mich mit seinem faulenden Atem so sehr an, dass mir schwindlig wird und ich mit aller Kraft auf ihn hintrete. Kurz bevor ich das Bewusstsein verliere, kassiere ich eine klatschende Ohrfeige, die meine Kiefer ordentlich aufeinander krachen lässt und es dauert noch ein paar weitere Sekunden, bis die Klagelaute aus meinem Mund in ein leises Röcheln übergehen. 

Zu gleichen Teilen überrascht und entsetzt sehe ich in das Gesicht meines Bruders.

“Alter”, raunt er mir zu, während mich seine starken Hände immer noch fest an den Schultern halten und er mit der rechten Fußsohle sein schmerzendes linkes Schienbein massiert, “hast du einen Vollknall?!”

Aber der Golem! Ich sehe mich stirnrunzelnd um. Da war doch ein Golem!

Und dann wird mir alles klar. 

Ich habe es tatsächlich geschafft, auf dem Klo in einen schlafähnlichen Zustand zu gleiten, der mich glauben ließ, es würde sich bei der Kreatur hinter der Klotür um ein brennendes Monster handeln und nicht um meinen Bruder, der kurz nach mir wach wurde, mir aufs Klo folgte und einfach nur darauf wartete, dass ich da endlich rauskomme, damit auch er pinkeln gehen kann –  den Rücken an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen.

“Du Arschloch”, flüstere ich ihm wütend zu und meine Hände ballen Fäuste, die ich durch Stahl boxen könnte. 

Im schwachen Licht des Vorzimmers sehe ich seinen Augen an, dass er kurz davor steht, zu lachen. Nachdem sich der erste Schock über seinen bescheuerten, schreienden Bruder gelegt hat, kann er gar nicht anders, als sich den herannahenden Wellen der Gelöstheit hinzugeben. Ich spüre das Zucken durch seine Hände und schließlich bricht ein grunzendes Lachen aus ihm hervor, das so ehrlich und ansteckend ist, dass ich gar nicht anders kann, als mitzulachen. Meine Knie zittern immer noch ein wenig und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich durch den Schreck vermutlich den einen oder andere Tropfen Urin verloren habe. Aber wir lachen und lachen und krümmen uns schließlich am Boden und immer, wenn sich der eine beruhigt hat, beginnt der andere zu lachen und als ich kaum mehr Luft bekomme und einen Krampf im Bauch, beginne ich nach Luft zu schnappen und drehe mich auf den Rücken. So liegen wir eine zeitlang nebeneinander, immer wieder leise kichernd.

“Alles okay?”, fragt er mich schließlich. Ich nicke. Er dreht seinen Kopf in meine Richtung, seine Augen sind tränennass. “Das war das Lustigste, was ich jemals gesehen habe. Egal wie alt ich werde, das werde ich nie vergessen.”

Ich schließe grinsend meine Augen und denke, dass es gut ist, auch solche Erinnerungen zu haben und nicht nur die Art, in denen dein Vater dich mit einem Nudelholz ohnmächtig prügelt.

“Du Arschloch”, wiederhole ich schließlich leise lachend und reibe mir müde meine tränenden Augen.

Und dann stehen wir auf und gehen wieder in unser Zimmer. 

Und lachen, bis die Sonne aufgeht. 

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