Bruder IV

Als mein billiger Walkman meine Guns ‘n Roses Aufnahme aufzufressen beginnt, springe ich entsetzt auf, drücke die Stop-Taste, öffne das Fach und entferne die orange Agfa Kassette. Das Wirrwarr des zerstörten Bands, das aus dem Tonkopf hängt, lässt mich aufseufzen und kopfschüttelnd frage ich mich, wo ich das Geld für einen neuen, funktionierenden Walkman hernehmen soll. Das Schrillen unseres Vierteltelefons reißt mich aus meinen existentiellen Überlegungen und ich pfeffere das kaputte Gerät samt Band-Leiche auf die Couch.

Es ist mein Bruder.

“Was machst?”, fragt er.

“Net viel.”, antworte ich.

Er ist seit mehreren Wochen nicht zuhause gewesen. Wo er sich rumtreibt oder übernachtet, weiß niemand. Ich habe mich daran gewöhnt, dass er nach handfesten Übergriffen seitens unseres Vaters einfach die Flucht ergreift und sein Glück da draußen versucht. Alles ist besser, als ständig seiner unbarmherzigen Faust ausgeliefert zu sein. Ich frage mich zum wiederholten Male, wovon er lebt und wie er zu Geld kommt.

“Wo bist du?”,frage ich ihn schließlich nach einer kurzen Pause. “Wo schläfst du??”

“Wer bist du, die spanische Inquisition?”, lacht er und versichert mir sofort, dass es ihm gut geht. “Komm ins Rundfunk”, sagte er schließlich. “Lass uns plaudern und was trinken.”

Ins Café Rundfunk? Warum gerade dorthin? Ich kenne diesen Laden nur vom Vorbeigehen, Geld für Getränke habe ich nie über, warum die Hütte also betreten?

“Was machst du im Rundfunk?”, frage ich ihn skeptisch.

“Scheißegal. Komm her, ich muss dir etwas zeigen.”

Ich sage “Vielleicht”, er sagt “Komm schon!”, ich überlege kurz und gebe schließlich nach, er freut sich, wir sagen Tschüss und legen auf.

Ich hole den kaputten Walkman aus dem Wohnzimmer, reisse das Band heraus, suche eine andere Kassette, die mir nicht besonders wichtig erscheint und lege sie ein. Ich verlasse die Wohnung und während mir Metallicas “Kill ‘em all”-Album auf höchster Lautstärke die Hirnzellen neu sortiert, mache ich mich auf den Weg in Richtung Friedensbrücke.

Es ist Frühling 1988. Das Wetter ist sonnig, aber wer sich dem Irrglauben hingibt, wärmende Strahlen vorzufinden, wird sehr schnell eines besseren belehrt. Ich frage mich, wie das Wetter so hinterhältig sein kann, während ich zitternd Dampfblasen ausspucke, die sofort an meiner Unterlippe hängenzubleiben scheinen. Währenddessen habe ich meine Hände tief in meinen Hosentaschen vergraben und spiele mit meinen Daumen Schlagzeug zu den Klängen aus meinem Walkman, der tapfer weiterspielt und sein Kontingent an aufgefressenen Bändern für den heutigen Tag aufgebraucht zu haben scheint. Als ich die Friedensbrücke passiere, verlässt meine Seele kurz meinen Körper, als eine Windböe mit gefühlten minus 50 Grad an mir zu reißen beginnt und kreischend laufe ich die letzten Schritte über die Brücke, um nicht einem vorzeitigen Erfrierungstod zum Opfer zu fallen. Dann sehe ich schon das Café Rundfunk. Einen wettergegerbten, weinfarbenen Wohnblock weiter wartet wohlige Wärme auf mich. Der Gedanke lässt mich vor Wonne erzittern und ich beschleunige meine Schritte.

Eine unsichtbare, sehr warme und feuchte Hand legt sofort einen undurchdringbaren Kondensschleier auf die Gläser meiner Brillen, als ich das Caféhaus betrete. Wie erwartet scheint die Temperatur 50 Grad über der Außentemperatur zu liegen und nachdem ich 3 Sekunden zufrieden geseufzt habe, beginnt mein Körper mit der Schweißproduktion. Ich nehme meine Brillen ab und lasse meinen Blick mit zusammengekniffenen und kurzsichtigen Augen über die Tische schweifen, ehe ich weiter hinten meinen Bruder entdecke. Auch er hat mich gesehen und hebt seinen Zeigefinger (ich glaube, es ist der Zeigefinger) in meine Richtung.

Ich hänge meine Jacke über einen Stuhl und wische meine Brillen mit meinem Shirt trocken, während wir uns Begrüßungen zuflüstern, als wären wir auf der Flucht.

“Warum flüstern wir?”, frage ich grinsend.

Er überlegt kurz und grinst zurück. “Ich hab’ keine Ahnung, Macht der Gewohnheit, schätze ich.”

Damit hat er nicht so unrecht. In unserem Elternhaus wird nicht herzhaft gelacht oder herumgeschrien. Nein, jegliche Kommunikation findet im Flüsterton statt, aus Angst eine unkontrollierbare Gewalteruption herbeizuführen, die mit Fausthieben und Fußtritten endet. Dann lieber leise und Mund an Ohr. Sicher ist sicher.

“Was machst du hier?”, frage ich schließlich, nachdem ich mich in dem Laden umgesehen habe.

Bevor er antworten kann, steht ein gelangweilter Kellner neben mir und fragt mich in einem Tonfall, der extrem an Theo Lingen erinnert, was ich trinken möchte. Vollkommen überfordert beginne ich, vor mir her zu stammeln. Ich habe kein Geld einstecken und mir ist keine Sekunde der Gedanke gekommen, dass ich hier etwas konsumieren müsste. Mein Bruder beobachtet die Szene belustigt und bestellt schließlich ein Himbeerkracherl für mich und ich danke ihm halbherzig. Der Kellner grunzt und verschwindet.

“Der Typ klingt voll wie Theo Lingen, oder?”, lache ich und deute über meine Schulter in die Richtung, in die der Kellner verschwunden ist.

Mein Bruder sieht mich verwirrt an.“Theo wer?”

“Egal”, seufze ich und wiederhole schließlich meine Frage von vorhin. “Was machst du hier?”

“Ich will dir was zeigen”, wiederholt mein Bruder die Worte von unserem Telefonat.

“Was denn?” Ich sehe ihn mit hochgezogenen Augenbrauen erwartungsvoll an.

Er greift in seine Hosentasche und zieht einen Stoß zusammengefalteter Geldscheine heraus. So wie es aussieht, sind es Tausend-Schilling-Scheine. Meine Augenbrauen verziehen sich weiter in Richtung Stirn, bis sie anstehen.

“Woher?”, frage ich, leicht vorgebeugt und erneut flüsternd.

Und er beginnt mir zu erzählen, was er die letzten Wochen so getrieben hat. Dass er es einfach nicht mehr aushalte daheim, mit diesem Verrückten am Ruder. Dass er so nicht mehr leben könne und sich deshalb eine Wohnung mit Freunden teile, wo er ab sofort wohnen und leben werde. Die sei auch gar nicht so weit weg von unserer Wohnung und ich könne ihn dort gerne jederzeit besuchen. Er habe es satt, ständig nach der Pfeife unseres Vaters zu tanzen und er sehe auch gar nicht ein, warum er arbeiten gehen soll, nur um danach das Geld bei ihm abzugeben. Immerhin habe ja er die ganze Arbeit. Warum unser alter Herr da einfach nur die Hand aufzuhalten braucht, verstünde er überhaupt nicht.

Ich höre mir das alles an und dort, wo es mir sinnvoll erscheint, nicke ich stumm.

“Woher hast du das Geld?”, frage ich ihn erneut, als er mit seinen Ausführungen fertig ist. Weil eine Antwort habe ich auf diese Frage nicht erhalten.

Er grinst stumm, lehnt sich in seinem Sessel zurück und sieht mich lange an. “Fahrräder”, ist schließlich seine kryptische Antwort.

Ich wälze das Wort stumm in meinem Kopf hin und her und beschließe, dass ich keine Ahnung habe, wovon er redet. Repariert er die Dinger? Arbeitet er in einem Radgeschäft? Verkauft er sie? Fahrräder, was?! Ich erfahre sofort, dass er sie tatsächlich verkauft, aber nicht so, wie ich mir das dachte. Ehe er sie nämlich verkaufen kann, muss er sie erst mal besorgen.

“Du stiehlst sie?!”, rufe ich schon beinahe und mein Bruder zischt laut auf, sieht sich erschrocken um und beugt sich verschwörerisch vor. “Alter, hast du sie noch alle? Schrei doch nicht so rum!”

Ich entschuldige mich einigermaßen unaufrichtig und höre ihm zu, wie er mir von seiner neuen Einnahmequelle erzählt. Er hat sich scheinbar tatsächlich darauf spezialisiert, in irgendwelche Häuser zu marschieren und sich eines der Fahrräder zu nehmen, die in nahezu allen Innenhöfen an irgendwelchen Stangen montiert darauf warten, gestohlen zu werden.

“Aber sind die Dinger denn nicht mit einem Schloss gesichert?”, frage ich ihn grübelnd. Er lacht.

“Herst, die Dinger mache ich dir mittlerweile in zehn Sekunden mit den Zähnen auf.”

Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass es so einfach ist, glaube ihm aber mal vorerst. Das Ganze macht mir jedoch sofort Sorgen, denn wie ich meinen Bruder kenne, wird die Angelegenheit über kurz oder lang dazu führen, dass er Bekanntschaft mit der Polizei machen wird. Aber ich höre ihm vorerst stumm zu, wie er weitererzählt.

“Du kannst dir nicht vorstellen, was für Räder diese Vollidioten mit einem käsigen Schloss in den Höfen rumstehen lassen!”, lacht er. Scheinbar gibt es da bestimmte Marken und Ausführungen, die sehr viel Geld wert sind. Ich kann das schwer nachvollziehen, alle Räder, die ich jemals besessen habe, waren alt, rostig und keine 50 Schilling wert. Die Information, dass jemand so viel Geld haben könnte, sich um zehntausend Schilling ein Rad zu kaufen, nehme ich skeptisch zur Kenntnis und beschließe, sie ins Reich der Mythen zu verbannen. So viel Geld hat niemand!

Der Kellner bringt mir mein Himberkracherl, näselt irgendwas vor sich hin und schiebt wieder hinter die Bar ab. Ich mache einen Schluck und gebe mich der himmlischen Mischung aus Himbeersirup und Zitrone hin. Wer dieses Zeug erfunden hat, ist hoffentlich reich geworden.

“Ich geh da also rein, suche mir ein schönes Teil aus, meistens mit mehreren Gängen und Shimano-Schaltung. Die Reifen sollten auch noch nicht allzu abgefahren sein und Zweifingerbremsen sind sowieso der ur geile Scheiß.” Ich habe keine Ahnung, wovon er redet, nicke aber lahm.

“Die Schlösser sind echt eine Frechheit, ich hab die in Nullkommanix offen. Ich erklär dir später mal, wie ich das mache. Du glaubst nicht, wie einfach das geht. Auf jeden Fall hab ich das Ding dann offen. Und dann marschier ich da einfach raus und fahre mit dem Rad weg, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.”

“Aber wie machst du die Räder dann zu Geld?”, frage ich ihn neugierig. “Wem verkaufst du die?”

“Die verkaufe ich irgendwelchen Typen auf der Straße. Ich frag sie einfach, ob sie ein Rad kaufen wollen. Wenn sie mich fragen, warum ich es verkaufe, erzähle ich ihnen was von finanziellen Problem und so, die meisten fragen nicht weiter nach. Die sehen die geilen Räder und wissen ganz genau, was die wert sind. Dann geben sie mir die Kohle und ich verzieh mich.”

Ich sehe meinen Bruder stumm an, als er mir von dieser Sache erzählt und frage mich, warum er mir davon erzählt. Irgendwas sagt mir, dass er diese Erfahrung mit jemandem teilen möchte, aber niemanden in seinem Umfeld hat, dem er es erzählen kann. Seiner Stimme höre ich an, dass er irgendwie stolz darauf ist, diese Einnahmequelle und ein gewisses Talent dafür entdeckt zu haben. Also erzählt er dem einzigen Menschen auf der Welt davon, von dem er überzeugt ist, dass er ihn nie verraten würde. Und er hat recht, das würde ich niemals. Aber ich mache mir sofort Sorgen und sage ihm das auch.

“Was, wenn du an einen Polizisten gerätst?”

Er lacht. “Für wie dämlich hältst du mich bitte? Ich laber doch keine Polizisten an!”

“Ich rede ja auch nicht von Polizisten in Uniform”, gebe ich grummelnd von mir. “Was, wenn das so zivile Kieberer sind? Denkst du nicht, dass dich die Hops nehmen?”

Er schüttelt den Kopf. “Geh bitte, die laufen doch nicht ziellos auf der Straße rum und warten auf mich. Die sitzen in irgendwelchen Autos und beschatten gefährliche Mafiosi.”

Ich nehme einen erneuten Schluck von meinem Getränk und mir fällt ein, dass er mir nicht gesagt hat, wieviel Geld er mir da vorhin gezeigt hat.

“Wieviel Kohle ist das?”, frage ich und nicke in Richtung seiner Hüfte. Wortlos holt er die Geldscheine raus und reicht mir den Stapel über den Tisch. Ich blicke erschrocken in alle Windrichtungen, nehme das Geld entgegen und verstecke es sofort unter dem Tisch.

“Scheiß dich nicht an”, grinst mein Bruder. “Zähl es.”

Ich senke mein Kinn so weit, dass ich unter die Tischkante sehen und das Geld in meinen Händen zählen kann. Es sind tatsächlich einige Tausender dabei, aber noch mehr fünfhundert Schilling Scheine. Als ich fertig bin, komme ich auf 22.500 Schilling. Ich sehe ihn überrascht an und beschließe, das Geld erneut zu zählen. Das kann unmöglich stimmen. Aber ich habe mich nicht verzählt. 22.500 Schilling in großen Scheinen. Ich gebe ihm das Geld stumm retour und trinke mein Himbeersoda aus. Danach überlege ich einige Zeit stumm, was ich sagen soll.

“Das geht nicht gut aus”, ist schließlich meine Reaktion.

Wie zu erwarten war, reagiert mein Bruder nicht besonders positiv auf diesen Satz. Ich soll mir nicht in die Hosen scheißen und er weiß schon, was er tut und wieso kann ich ich nicht für ihn freuen und was soll er denn sonst machen und er will auf keinen Fall wieder heim und er wird dieses Geld sinnvoll einsetzen und was ihm eben noch an Larifari einfällt.

Ich höre mir das alles an und als er fertig ist, beuge ich mich vor und wiederhole den Satz.

“Ich sage dir, das geht nicht gut aus. Was denkst du, wie lange du das durchziehen kannst, ehe sie dich drankriegen?”

“Mich kriegt niemand dran”, grunzt er vergnügt und zwinkert mir zu.

“Sorry, aber das haben viel ärgere und vor allem größere Kaliber als du auch behauptet.” Mir fällt auf Anhieb nur Al Capone ein und ich beschließe, diesen Namen nicht zu erwähnen.

Es folgt ein Gespräch über Zukunftsaussichten und Ängste und Berufe und Gefängnis und Eltern und am Ende hat mich mein Bruder beinahe überredet, dass er weiß, was er tut und keine Risiken eingeht. Ich akzeptiere es schulterzuckend und wünsche mir stumm, dass er recht hat. Als ich mich schließlich aufmache, wieder nach Hause zu gehen, steht er verwundert auf und fragt mich, wo ich hingehe.

“Naja, heim”, gebe ich lahm von mir und deute in Richtung Ausgang.

“Nix da heim”, sagt er und deutet mir, ich möge mich wieder hinsetzen. “Jetzt hauen wir auf den Putz!”

Was er damit meint, wird mir klar, als er uns von der Bar zwei Speisekarten holt, mir eine reicht und verrät, dass wir jetzt mal so richtig fein essen werden, bis nichts mehr in uns hineinpasst. Und das ist genau das, was wir tun. Unmengen an Gulasch, Schnitzel, Pasta Asciutta und sonstigem Essen steht eine halbe Stunde später dampfend vor uns auf dem Tisch. Wir sehen uns grinsend an, nicken uns zu und machen uns an die Arbeit. Dabei erzählen wir uns Geschichten aus unserer Kindheit. Dinge, die wir gesehen und erlebt haben – in Wien oder der Türkei. Es ist erstaunlich, wie viel uns einfällt. Trotz unseres geringen Alters scheinen wir bereits eine Menge erlebt zu haben. Wir lachen und stopfen uns Essen in den Mund. Während ich mir eine Limonade nach der anderen reinkippe, sucht mein Bruder bereits nach Desserts in der Karte und bestellt daraufhin mehrere, damit wir uns durchkosten können. Ich grinse glücklich und kann es kaum erwarten, mir mit Mohr im Hemd, Kaiserschmarrn, Palatschinken und Eismarillenknödeln den Magen endgültig auszurenken.

Eineinhalb Stunden später liegen wir mehr auf unseren Sesseln, als wir drauf sitzen. Die obersten Knöpfe unserer billigen Jeans ist offen und uns hängt der Bauch aus der Hose. Zufrieden rülpsend kichere ich und weiß jetzt schon, dass mir dieses Gelage Ewigkeiten in Erinnerung bleiben wird. Ich frage mich, wieviel Geld wir verfressen haben, beuge mich stöhnend vor, studiere kurz die Speisekarte und mache eine schnelle Überschlagsrechnung. Erschrocken lehne ich mich zurück, als mir klar wird, dass wir um die siebenhundert Schilling hier liegen lassen werden. Mein Bruder lacht grunzend und winkt ab. Siebenhundert Schilling seien kein Geld. Ich sehe das anders und während er beim näselnden Kellner die Rechnung begleicht, frage ich mich, wie lange mir dieser Betrag als Taschengeld gereicht hätte. Aber ich schüttle diesen Gedanken sofort wieder ab, immerhin haben wir wie Könige gespeist und getrunken und mich hat die ganze Sache keinen Groschen gekostet. Zufrieden schmatze ich den letzten Rest Kaiserschmarrn Geschmack aus meinem Mund und wir stehen auf, um das Rundfunk zu verlassen.

Und genau hier kippt das Ganze.

Auf halbem Weg zum Ausgang passieren wir eine dunkle Ecke, wo sich zwei Spielautomaten befinden. Als wir vorbeigehen, hält mich mein Bruder kurz an der Schulter fest und ich drehe mich neugierig um.

“Warte mal kurz”, sagt er und zeigt mit dem Daumen auf einen der zwei Spielautomaten. “Ich werf’ da nur mal ein paar Hunderter rein, vielleicht geht was.”

Ich runzle nervös die Stirn. Ich kenne diese Geräte nur vom Sehen, verstehe sie nicht, weiß aber bereits, dass man hier sehr schnell sehr viel Geld verlieren kann, wenn man nicht aufpasst. Ich packe den Arm meines Bruders, versuche ihn weiterzuziehen und labere etwas von Geld- und Zeitverschwendung. Aber ihn weiterzuziehen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Seine Beine sind fest im Boden verankert und sein entschlossener Gesichtsausdruck verrät mir sofort, dass der beste Weg, hier wegzukommen der ist, ihn einfach ein paar Scheine in diese elendige Maschine stecken zu lassen.

Während er es sich vor dem Automaten bequem macht, positioniere ich mich hinter ihm und beobachte, was sich auf dem Bildschirm tut. Er startet ein Poker Spiel und füttert den Automaten mit einem 500 Schilling Schein. Mein Herz sackt einige Zentimeter weit ab, als ich daran denke, was man sich alles mit soviel Geld kaufen könnte. Aber ich bin erst 15 Jahre alt und weiß einen Scheiß. Mein Bruder spuckt sich in die Hände und beginnt das Spiel.

“Siehst du den Joker da?”, fragt er mich. “Von dem brauchen wir so viele wie möglich. Dann geht sich vielleicht ein 5 of a kind aus.”

Ein weiterer Tausender verschwindet in der Maschine.

“Letzte Woche hab ich aus einem Automaten im Prater zehntausend Schilling in einer halben Stunde rausgeholt!”, gibt er an und bestellt sich ein großes Cola. Ich schlucke seufzend.

Ein weiterer Tausender verschwindet in der Maschine.

“Wir brauchen eine Pik As”, flüstert er, als eine bestimmte Kombination an Spielkarten auf dem Schirm erscheint. Er zeigt mit seinem Zeigefinger an eine Stelle, an der auf magische Art und Weise die von ihm gewünschte Spielkarte erscheinen soll. Stattdessen bekommt er jedoch eine Herz 5.

Ein weiterer Tausender verschwindet in der Maschine.

“Sieh genau her”, flüstert er, als plötzlich eine Gewinnkombination erscheint und er die Möglichkeit erhält, per Doppelt oder Nichts, seinen Gewinn von 300 Schilling zu vervielfachen. Seine Hand schwebt über der Gamble-Taste und saust plötzlich herab.

Bumm, aus 300 Schilling werden 600! Zack, aus 600 werden 1200! Mein Herz beginnt zu rasen. Bumm, aus 1200 werden 2400 Schilling! Einem Herzinfarkt nahe lege ich ihm langsam meine Hand auf den Arm und flehe ihn leise an, den Gewinn einzusacken. Er schüttelt meine Hand ab und, Zack, aus 2400 werden 4800 Schilling. Ich kann es kaum fassen! Jetzt wird er den Gewinn doch wohl sicher nehmen, denke ich. Niemals riskiert er 5000 tausend Schilling! Und seine Hand saust herab und der Automat macht “Bööörp!” und das Geld ist futsch. Und als wäre nicht das Geringste passiert, spielt mein Bruder weiter.

Ich taumle rückwärts, plumpse auf die Bank eines Tisches und bleibe einfach sitzen. “Fünftausend Schilling!”, hallt es durch meinen Kopf. Soviel Geld habe ich bis heute noch nie auf einem Haufen gesehen. Mein Bruder redet weiter mit mir, er hat nicht mitbekommen, dass ich kurz davor bin, mich zu übergeben. Mein Magen rebelliert und weigert sich zu akzeptieren dass es Menschen gibt, die soviel Geld einfach wegschmeißen. Ich schließe meine Augen und muss mich immens anstrengen, meinen Magen nicht an Ort und Stelle auszuleeren.

Fünftausend Schilling!

Während ich ihn still beobachte, füttert mein Bruder den Automaten weiter zeternd und schimpfend mit Geldscheinen. Er hat alles und jeden um sich herum vergessen, es scheint für ihn nur diesen Automaten zu geben. Das Cola, das ihm der Kellner gebracht hat, steht neben ihm auf einem kleinen Tisch und blubbert fröhlich vor sich hin, während mein Bruder sein gesamtes Geld verspielt. Ich sehe ihm dabei zu und erreiche ein Ausmaß des Entsetzens, das ich auch in späteren Jahren nicht übertreffen soll. Als es kein Guthaben mehr gibt, lehnt sich mein Bruder kurz zurück, seufzt, schnappt sich das Glas Cola, trinkt es in einem Zug aus, gleitet vom Hocker und verlässt das Rundfunk, ohne mich eines Blicks zu würdigen. Ich sehe ihm traurig nach und folge ihm schließlich vor das Restaurant.

Draußen zerrt der Wind an uns und verwüstet uns die Frisuren. Unsere Gesichter sind bleich und auch wenn wir bis vor Kurzem noch gelacht und königlich gespeist haben, hat sich mittlerweile eine Kälte auf mein Herz gelegt, deren Endgültigkeit mir den Atem raubt. Ich sehe meinen Bruder an und weiß nicht, was ich sagen soll. Ihm scheint es aber genauso zu gehen. Er weiß, dass er Scheiße gebaut hat, hat aber nicht gelernt, mit Situationen wie diesen umzugehen. Genauso wenig wie ich. Wir stehen vor dem Rundfunk, unsere Hände in den Hosentaschen vergraben und wissen nicht so recht, wohin mit uns. Schließlich breche ich das Schweigen.

“Na gut ich geh’ heim”

Mein Bruder nickt stumm. Nachdem sonst keinerlei Reaktion von ihm kommt, drehe ich mich wortlos um und gehe in Richtung Friedensbrücke. Mir ist immer noch schlecht und mein Kopf ist kurz vor dem Explodieren.

“He!”, ruft er mir nach, als ich beinahe die andere Seite der Gasse erreicht habe. Ich drehe mich um und sehe ihn fragend an. “Was?”

“Es ist nur Geld.”, ruft er schließlich zu mir herüber, nachdem er tief ein- und ausgeatmet hat. “Scheiß drauf!”

Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll, drehe mich wortlos um und gehe einfach weiter.

Der Weg heim dauert eine Ewigkeit. Ich fühle mich schuldig und schmutzig und sinnlos und kann mir nicht erklären, warum. Die Frage, warum er das getan hat, schießt mir gefühlte tausend Mal durch den Kopf, aber ich finde keine Antwort darauf. Als ich vor meinem Haustor stehe, schließe ich meine Augen, seufze traurig und wünsche mir, es wäre wieder 1983. Damals war ich zehn und mein Bruder dreizehn. Wir verbrachten jeden Tag in den Ferien miteinander, ohne zu wissen, was der Tag bringen würde. Wir erforschten jeden Meter Brigittenau und abends, wenn wir verschwitzt und hundemüde auf unsere Ausziehcouchen fielen, erzählten wir uns von all den großartigen Dingen, die wir in unserem Leben noch tun würden. Von Abenteuern und Reichtümern und Reisen und Erfolg. Keine Spur von gestohlenen Fahrrädern, Spielautomaten, Perspektivlosigkeit oder dem Gefühl drohenden Untergangs.

“Noch einmal zehn sein”, denke ich, als wäre ich bereits fünfzig. Kopfschütteln stoße ich das Haustor auf und gehe in die 55 Quadratmeter große Wohnung, in der ich und meine Geschwister aufgewachsen sind. Im Wohnzimmer sitzen meine Eltern und schauen sich im Fernsehen irgendeinen Schwachsinn an, der komplett an mir vorüberzieht. Ich setze mich auf meine Couch und schlafe sofort im Sitzen ein. Ich träume von einer Welt, wo alle Dinge richtig laufen und niemand Scheiße erleben oder einstecken muss. Es ist ein kurzer Traum, meine Mutter rüttelt mich irgendwann wach und ich umarme sie. Nichts auf der Welt kann so schlimm sein, dass ihr Geruch es nicht lindern kann. Ich schließe meine Augen und wünsche mir stumm, dass es meinem Bruder immer gut gehen möge.

Aber am Horizont zeichnen sich bereits dunkle Wolken ab. Und sie kommen näher.

Erbarmungslos und schnell.

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