Gefüllte Wennblätter

Im Internet existiert ein Bild eines Haifischs, der seinen Kopf aus dem Wasser streckt und laut aufzuschreiben scheint. Darunter steht “So sieht ein Hai aus, der auf einen Lego Stein gestiegen ist”. Ich kann mich erinnern, dass ich über dieses bescheuerte Meme viel länger als nötig gelacht habe. 

Nach Lachen ist mir nicht zumute, als ich am Rand der Badewanne sitze und mir mit zitternder Hand Splitter eines zerborstenen, roten Legosteins mithilfe einer Pinzette aus der Fußsohle picke. Rot in rot. Hilft nicht wirklich und verzögert alles nur unnötig. Dabei habe ich doch keine Zeit, ich muss Sarma zubereiten, das Lieblingsgericht meiner Tochter. Der Auftrag wurde in etwa so erteilt.

“He, Stinkerl. Was möchtest du denn…”

“Sarma!”

“Aber du weißt ja gar nicht…”

“Sarma!”

“Wie willst…”

“Wennblätter und Faschiertes!”

Und das war’s dann. Keine weiteren Fragen. Die Frage, warum diese beschissenen, kleinen, mörderischen Plastikminen in der ganzen Wohnung verstreut waren, wurde von ihr in ähnlichem Stil beantwortet.

“Sag mal, wie oft soll ich dir eigentlich…”

“Das war die Hanna!”

“Was war die..”

“Legosteine!”

“Ja, aber könnt ihr die nicht…”

“Ich war’s nicht! Hanna ist schuld!”

Ich verwünschte die Schulfreundinnen meiner Tochter und humpelte also auf der Ferse aus ihrem Zimmer, um mich im Badezimmer an die blutige Arbeit zu machen. 

Nachdem ich mir ziemlich sicher bin, jeder kleine Stück aus meinem Fuß geborgen zu haben, desinfiziere ich kurz mit einem Spray, beiße mir quietschend auf die Unterlippe, verbinde schließlich  die hässlich aussehende Wunde mit Wundband und schlüpfe schnell in meine Happy Socks mit aufgedruckten Kirschen. Leise vor mich hin fluchend humple ich in die Küche, um mich an die Arbeit zu machen. 

Das Telefon läutet. 

Es ist meine Frau, die gerade beim Einkaufen ist. Ob ich die Sarma eh nicht vergessen habe, fragt sie mich. Nein, sage ich. Ob ich ihr einen Tee machen kann, fragt sie mich. Du bist doch gar nicht zuhause, sage ich. Aber sie ist schon auf dem Heimweg, meint sie und sie hätte so Bock auf Tee und ich soll mich nicht anscheißen und den Wasserkocher füllen und einschalten und ihr den verfickten Tee machen. Ich nicke, obwohl sie es nicht sehen kann, habe den Wasserkocher schon längst halb mit Wasser gefüllt, stelle ihn ab und schalte ihn ein. Kirsche, Blutorange, Pfefferminze oder gar Malve? Ich stehe vor dem Schrank mit den Teebeuteln, tippe mir grübelnd mit dem Zeigefinger an die Unterlippe und versuche, die richtige Wahl zu treffen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Egal wofür ich mich entscheide, es wird die falsche Wahl sein. Ich entscheide mich für einen Beutel Pfefferminze und einen Beutel Kirsche. Ha! Damit rechnet sie bestimmt nicht! Der Wasserkocher gurgelt, als würde ihm jemand die Kehle mit einem Rasiermesser aufschlitzen, ich gieße kochendes Wasser auf die Beutel und streiche das Thema Tee damit für alle Ewigkeiten aus meinem Hirn, um mich meiner Aufgabe zu widmen. 

Mein Kind kommt in die Küche gelaufen. Ich höre sie lange vorher, bevor sie mit aufgeschminktem Superheldengesicht und einem um den Hals gebundenen Badetuch vor mir steht, zur Seite blick und ihre kleinen Fäuste dramatisch langsam in ihre Seiten stemmt. 

“Rate!”, fordert sie mich auf. Ich kratze mein Kinn, lege den Kopf schief und tu so, als würde ich überlegen. 

“Schmutzgesicht-Woman!”, rufe ich schließlich, und schnippe dabei laut, ganz so als hätte ich soeben die größte Idee meines Lebens gehabt.

Sie schnaubt verächtlich, schüttelt bis ins Mark enttäuscht den Kopf und galoppiert aus der Küche, wobei sie mit der rechten Hand eine Gesten in meine Richtung macht, als würde sie eine Fliege verscheuchen.

“Superman-Woman!”, kreischt sie mir aus ihrem Zimmer hinterher, ehe sie ihre Tür mit einem lauten Knall zuwirft und ihrer Alexa befiehlt, ihre Lieblingssongs-Playlist auf Lautstärke 50 vorzuspielen. Als Katy Perry loslegt, seufze ich zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Tag und öffne den Kühlschrank. Meine Fußsohle pocht spürbar zum Rhythmus der Musik, die aus dem Kinderzimmer dringt. 

Sarma sind nicht nur das Lieblingsgericht meiner Tochter. Auch ich liebe diese kleinen, grünen, mit köstlichem Reis und Faschiertem gefüllten Scheißerchen über alles. Ich habe meiner Mutter als Kind wohl an die tausend Mal beim Sarma machen zugesehen, als ich es das erste Mal selber probieren wollte, fühlte ich mich, als würde jemand einen Autopiloten einschalten, der alle meine Bewegungen von ganz alleine steuerte. Wie meine Mutter mache ich meine Sarma jedoch schon lange nicht mehr. Die goldene Regel des Kochens besagt, dass man sich gute Rezepte besorgt und sie sich dann zu eigen macht. Macht Sinn, finde ich. 

Die wichtigste Änderung, die ich an diesem Gericht vorgenommen habe ist, dass ich die fertig gerollten und kreisförmig in einen Topf geschichteten Weinblätter nicht mit Wasser aufgiesse, sondern mit einer eigens dafür gekochten Hühnerbrühe. An der Füllung selber habe ich im Grunde nicht viel verändert, ich schwitze hier die fein gehackten Zwiebeln jedoch an und gebe sie nicht roh ins Faschierte dazu. Dann noch eine Prise Zucker dazu und auch noch Kreuzkümmel und Currypulver, jeweils nur ein Hauch davon. Zum Tomatenmark gesellt sich dann noch ein Esslöffel Paprikamark und genug feinstes Olivenöl und schon habe ich eine gehobene Version eines Gerichts, das mich als Kind schon zu mittelschweren Begeisterungsstürmen hinzureissen vermochte. 

Ich schnipple also vor mich hin und hantiere mit Gewürzen und Zutaten, als das Kind plötzlich wie ein Kastenteufel neben mir auftaucht. Ich kreische erschrocken auf, sie zeigt mit dem Zeigefinger auf mich und lacht mich so lange aus, bis ich nicht anders kann, als ebenfalls zu lachen. Ein hundsgemeines Ablenkungsmanöver, wie sich herausstellen soll, ihre kleine Hand schießt in die Schüssel mit der Masse und sie schaufelt sich gekonnt ein oder zwei Mundvoll Fleisch in die Hand und ehe ich etwas lahmes wie “He!”, “Holla!” oder “Also wirklich!” von mir geben kann, galoppieren ihre kleinen Füßchen wieder in ihr Zimmer, während sie gackernd lacht und das Badetuch waagerecht hinter ihr herfliegt. Ich überlege kurz, sie zu verfolgen, entscheide mich jedoch aufgrund meines verstümmelten Fußes gleich dagegen und da fliegt die Wohnungstür auf und danach wieder krachend ins Schloss. 

Die Herrin des Hauses ist da. 

Der Tee wird wohlwollend zur Kenntnis genommen. Ich packe ihren Nacken, als sie sich mir mit geschürzten Lippen nähert, drücke ihr einen feuchten Kuss auf ihren großartigen Mund und sauge sehnsüchtig ihren Geruch auf. Es riecht nach Blumen und Früchten und Vertrautheit und ein wenig Wahnsinn. Ich könnte nicht ohne dieses Aroma leben. Während sie den Einkauf auspackt und mir danach ein paar neu erstandene Kleidungsstücke vorführt, höre ich ihr halbherzig zu, immerhin bin ich mit meinen Gedanken beim Kochen und halbherzig kochen kommt auf gar keinen Fall in Frage. Halbherzig zuhören dagegen schon. Ich nicke an den richtigen Stellen und ziehe ein weiteres Mal zu mir, als ich merke, dass sie mir eine Frage gestellt hat, die ich nicht mitbekommen habe. Ein weiterer Kuss auf ihre wunderschönen Lippen lenkt sie entsprechend ab und ehe sie auf die Idee kommt, mich erneut zu fragen, schicke ich sie mit ihrem großen Teehäferl und einen Klaps auf ihren Po ins Wohnzimmer, wo sie sich seufzend auf dem Ohrensessel niederlässt und die nächste Stunde damit verbringt, den Kater halbtot zu kuscheln.

Das Leben könnte in der Tat schlimmer sein.

Die gefüllten Weinblätter sind schließlich im Topf, die davor aufgesetzte Hühnerbrühe aus Knochen und Gemüse habe ich abgeseiht und gieße damit den Topf mit den Sarma auf. 

“Huungaaaarrr!”, tönt es unisono aus dem Wohnzimmer. Scheinbar hat das Kind die Mutter entdeckt und klettert auf ihr herum, ohne dabei den Kater plattzumachen. 

Ich koche den Topf auf, drehe die Hitze kleiner, gebe den Deckel drauf und überlasse das Essen der Zeit. “Sie sind dann fertig, wenn sie fertig sind”, war die Antwort meiner Mutter auf die Frage, wie lange ich die Dinger denn köcheln lassen muss. Eine bessere Antwort habe ich noch nie auf eine Frage erhalten.

Ich geselle mich zu meinen Ladies im Wohnzimmer. Wir videofonieren mit meiner großen Tochter und ziehen Grimassen und lachen und sind ausgelassen und froh, dass es Wochenende ist und wir uns haben. Meine große Tochter schickt uns Küsse und ich fange sie mit der Hand auf und drücke sie uns allen in die Gesichter. Danach lungern wir gemeinsam auf der Couch herum und streamen irgendwelche Kinderfilmklassiker, die meine kleine Tochter immer noch mit der gleichen Begeisterung ansieht, ganz so als wäre es das erste Mal. Ich massiere meiner Frau die Füße, wir kuscheln, ich nehme erneut ihren bezaubernden Geruch auf und springe schließlich auf, schreie kurz, als ich auf meinem toten Fuß lande und humple leise weinend in die Küche.

Sarma sind fertig!

Als ich den Topfdeckel hochhebe und mir eine Wolke wunderbaren Dampfes entgegenschlägt, stehen die Ladies plötzlich neben mir und stecken ihre Nasen in den Topf. Sie machen Ooh und Aah und sind ganz verzückt und wissen ganz genau, dass ich viel Sarma gemacht habe und wir uns heute den Bauch so richtig vollschlagen können. Sie kennen mich eben schon ganz gut. 

Als ich die einzelnen gerollten Weinblätter mit einer Zange auf einen großen Teller schichte, sitzen sie schon mit Gabel und Messer bewaffnet am Esstisch und stampfen laut mit den Füßen auf. Ich beeile mich, ehe sie die ganze Küche zusammentreten und gemeinsam machen wir uns über den Teller her wie eine Horde Wanderheuschrecken. Als nur mehr ein Sarma übrig ist, lehne ich mich zufrieden zurück und sehe meine Frau an. Sie quittiert meinen Blick und wirft unserer Tochter einen Blick zu. Diese nickt stumm, schnappt sich das letzte Sarma und steckt es sich ganz in den Mund. Wir sind satt und glücklich und froh, dass wir uns haben. Unsere Tochter schluckt den letzten Bissen genüsslich runter und schließt dabei genießerisch ihre Augen.

“Gefüllte Wennblätter sind geil.”,seufzt sie schließlich.

Meine Frau und ich nicken zur Bestätigung.

Das sind sie. 

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