Salat

Sabine schnappt sich ihre Handtasche, während ihr Arbeitscomputer herunterfährt. Sandy, ihre chronisch schlechtgelaunte Kollegin, wirft ihr kaugummikauend mürrische Blicke zu, die zwischen Sabines Bildschirm und Wanduhr hin- und herpendeln.

„Komm schon!“, seufzt Sabine, als sie die stechenden Blicke in ihrem Rücken fühlt und sich schuldbewusst zu Sandy umdreht. „Es ist nur eine halbe Stunde und ich bin mit meiner Arbeit fertig. Ich möchte Heinz daheim überraschen.“

Sandy erinnert sich an irgendein ausschweifendes Gelaber über Hochzeitstage und Reservierungen in Haubenlokalen, verdreht wortlos die Augen und konzentriert sich wieder auf ihre Arbeit. Sabine wirft sich ihre Jacke über die Armbeuge und sieht zu, dass sie aus dem Büro verschwindet.

Während ihre Stöckelschuhe ein lautes Klackediklack auf dem Gehsteig zum Besten geben, stelzt Sabine in Richtung U-Bahn. Dabei lächelt sie gelegentlich, was vorbeigehende Passanten stirnrunzelnd zur Kenntnis nehmen. Es ist nun mal kaum etwas so gruselig, wie scheinbar grundlos lächelnde Menschen auf der Straße. Sabine ist diese Blicke jedoch gewöhnt. Ihre vor Jahren diagnostizierte paranoide Schizophrenie hat ihr in jungen Jahren das Leben schwer gemacht. Einige stationäre Aufenthalte und Episoden später schaffte es ihr Arzt schließlich, sie medikamentös so optimal einzustellen, dass sie fortan ein nahezu unbeschwertes Leben führen konnte. Gelegentliche Aussetzer, bei denen sie unsichtbare Wesen anschrie oder nachts weinend die Polizei anrief, waren eigentlich kaum der Rede wert. Eins der Dinge, die ihr jedoch geblieben waren, waren die Selbstgespräche, die sie einfach nicht abstellen konnte, hauptsächlich weil sie in den meisten Fällen nicht mal merkte, dass sie etwas von sich gab.

„Vorspeisen, Vorspeisen, Vorspeisen.“, murmelt Sabine vor sich hin, während sie sich gedanklich auf den Abend einzustellen beginnt. Sie hat zu ihrem 15. Hochzeitstag bereits vor Monaten einen Tisch in einem notorisch ausgebuchten Restaurant reserviert, das zu den besten Europas gehört. Zwei Teenager, die an ihren Smartphones herumfingern, werfen ihr argwöhnische Blicke zu und beginnen anschließend laut zu lachen. Sabine sieht aus dem Fenster und geht im Kopf weiter die Vorspeisenkarte durch, die sie sich bereits vor Wochen von der Website des Restaurants heruntergeladen und auswendig gelernt hat.

Von der U-bahn-Station bis zur Wohnung sind es nur ein paar hundert Meter. Sabine beschleunigt ihre Schritte, in freudiger Erwartung. Sie hat sich letzte Woche online neue Reizwäsche gekauft, die sie Heinz vor ihrem Restaurantbesuch noch vorführen möchte. Eine schnelle Nummer vor einem großartigen Dinner hat noch niemandem geschadet. Sie spürt, wie es zwischen ihren Beinen angenehm zu pochen beginnt und beschleunigt abermals ihre Schritte. Daheim angekommen, sperrt sie die Wohnungstüre auf und fliegt beinahe ins Vorzimmer. Sie pfeffert Jacke, Schuhe und Tasche in eine Ecke und läuft ins Schlafzimmer, wo sie in ihrem Kommode bereits das knallrote Spitzen-Mieder und den G-String bereitgelegt hat. Sie zieht sich schnell aus, und schlüpft schnell in die neue Reizwäsche. Gerade als sie sich den Slip hochzieht, vernimmt sie ein leises Geräusch aus dem Wohnzimmer. Die Ohren spitzend und auf Zehenspitzen schleicht Sabine durchs Vorzimmer und findet Heinz auf dem Wohnzimmerboden liegend vor.

Tausend Gedanken gehen ihr bei der Szenerie, die sich ihr offenbart durch den Kopf. Stimmen schreien plötzlich in ihrem Kopf und sie beißt sich wimmernd in den Knöchel ihres Zeigefingers, um nicht laut loszuschreien. Stattdessen versucht sie sich ein Bild über folgende Situation zu machen:

Heinz, ihr Mann, liegt nackt auf dem Rücken neben der Couch, seine Körpermitte und Penis glänzen nass. Sabine entdeckt eine Flasche Massageöl auf dem Couchtisch. Heinz gibt ein weiteres leises Röcheln von sich, das Sabine als das Geräusch von vorhin identifiziert. Auf seinem Kopf befindet sich ein getragener Slip Sabines.

Noch vollkommen gelähmt vom Schock kniet Sabine neben ihrem Mann nieder und hält ihr Ohr an seine Brust. Kein Herzklopfen. Nichts. Erst jetzt bemerkt sie den Laptop, der auf dem Tisch steht. Die kreischenden Stimmen in ihrem Kopf ignorierend, steht sie auf, um sich die geöffnete Website anzusehen.

Da sind Videos von Männern. Da sind Textnachrichten. Da sind Fotos von männlichen Genitalien.

Während Sabine durch die Dutzenden Nachrichten scrollt und sich unzählige Fotos von fremden Männern ansieht, zu denen ihr Mann scheinbar Kontakt hatte, spürt sie, wie etwas in ihrem Inneren zerbricht. Ihren ersten Impuls, Hilfe zu rufen, haben die kreischenden Stimmen vorhin unterdrückt. Jetzt aber steht sie nur auf und geht erneut ins Schlafzimmer. Sie zieht ihre Kleidung über die Reizwäsche an und verlässt, leise vor sich hin flüsternd, die Wohnung.

Fünfzehn Jahre.

Schwänze, Hoden.

Fünfzehn gottverdammte Jahre.

Dein Hintern sieht großartig aus!

Die ganze Zeit über… alles eine Lüge!

Wie gefällt dir mein Schwanz?

Fünfzehn Jahre.

Ohne zu wissen wo sie ist oder wie lange sie unterwegs war und ohne ersichtlichen Grund, betritt Sabine schließlich einen Supermarkt und irrt eine zeitlang ziellos durch die klimatisierten Gänge, ehe sie in der Gemüseabteilung stehenbleibt.

„Ich mache Salat.“, sagt sie schließlich. „Heinz mag Salat. Ich besorge grünen Salat und vielleicht einen Lollo Rosso oder einen Eichblatt Salat. Der passt toll zu einem grünen Salat.“

Während ihr die Tränen aus den Augenwinkeln tropfen, schlurft sie langsam hinüber zu den Salat Schütten und begutachtet die Auswahl.

Schnecken!, schreien die Stimmen in ihrem Kopf. Sabine ist sich nicht sicher, ob sie die Stimmen wieder in ihr Leben lassen soll, aber da sie ihr mit guten Tipps und Ratschlägen bezüglich Salat zur Seite stehen, beschließt sie, dass es okay ist.

„Ja, die Schnecken.“, murmelt sie leise und nimmt einen grünen Salatkopf. Diese schleimigen kleinen Scheißer verstecken sich gerne zwischen den äußeren Salatblättern, aber ihre Großmutter hatte ihr einen Trick gezeigt, wie man sie ausfindig machen konnte. Man musste den ganzen Kopf einfach nur gegen helles Licht halten und konnte dann, wenn man die äußeren Blätter etwas zur Seite zog, genau erkennen, wo es sich Schnecken gemütlich gemacht hatten.

Sabine verbringt den halben Tag vor der Schütte und kontrolliert Salatköpfe. Sie hebt einen hoch, hält ihn stirnrunzelnd gegen das grelle Neonlicht der Supermarktbeleuchtung und legt ihn, nachdem die Stimmen eindeutig gegen diesen Salatkopf sind, wieder retour, um sich dem nächsten zu widmen.

Irgendwann beschränkt sich ihr ganzes Dasein nur noch auf diesen Ort und Salate. Sabine überlässt die Kontrolle zur Gänze den Stimmen und ihr Geist verkriecht sich, während ihr Arm immer noch Salatköpfe hochhebt, in ihr tiefstes Inneres.

„Vorspeisen.“, ist der letzte Gedanke zu dem sie fähig ist, ehe sie sich für immer fallen lässt.

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