Freitag, 20. Mai 2022
Das Geschnatter der Damen im Büro bringt mich dermaßen in Rage, dass ich mich schnaufend in meinem Schreibtischsessel zurücklehne und sie genervt anstarre. Es fällt niemandem auf und selbst wenn, würde es sie kein bisschen jucken. Als wäre mein Job nicht schon öde genug, muss ich mir auch noch den ganzen Tag das dumme Geschwafel dieser Mittzwanziger anhören, die alle denken, die Weisheit mit dem Löffel gefressen zu haben. Ihre Themen reichen von Trans-Rechten über veganes Essen bis hin zu Donald Trump. Ich möchte ihnen einfach nur in ihre dummen Gesichter schreien, aber glücklicherweise läutet in diesem Moment mein Handy, also schnappe ich es mir erleichtert und verlasse den Raum.
Es ist Freitag, der 20. Mai 2022. Heute werde ich nach meinem Dienst in den Falstaff-Räumlichkeiten mit zwei Freunden nach Budapest fahren, um mir so richtig schön die Gehirnwindungen gerade zu saufen. Ich habe meinen Rucksack mit dem Notwendigsten gepackt und bin einigermaßen motiviert, dieses Wochenende mit einer durchschnittlichen Menge Exzess zu absolvieren.
Die Nummer auf meinem Handy ist eine türkische, das erkenne ich an der internationalen Vorwahl 0090. Ich zögere kurz, drücke dann aber schließlich den grünen Button und melde mich höflich. Nach einigem Rauschen und unverständlichem Gemurmel höre ich endlich etwas. Es ist der Stiefsohn meines Bruders. Er weint. Mein Bruder sei heute Morgen gestorben.
Ich erstarre, runzle ungläubig die Stirn und frage ihn, was zum Teufel er da redet. Schluchzend berichtet er mir, dass mein Bruder früh am Morgen über Brustschmerzen geklagt hätte. Sie hätten die Rettung rufen müssen und er wäre sogar noch zu Fuß in den Wagen eingestiegen, nur um daraufhin an einem massiven Herzinfarkt zu sterben.
Alles um mich herum scheint stehen zu bleiben. Ich spüre, wie eine Gänsehaut mein Rückgrat hochschießt und sich meine Augen mit Wasser füllen. Mit zitternder Stimme frage ich nach, ob das ein dummer Scherz ist, aber in Wirklichkeit habe ich schon lange mit so einem Anruf gerechnet.
Mein Bruder ist tot.
Ich erfahre, dass er im Krankenhaus von Kemer liegt und darauf wartet, bestattet zu werden. Das passiert in der Türkei immer innerhalb der ersten drei Tage. Ich versichere meinem Neffen, dass ich kommen werde, und als ich auflege, dreht sich die ganze Welt um mich und ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich tun soll. Tausend Gedanken und Erinnerungen prasseln auf mich ein und unfähig, zu entscheiden, wie es jetzt weitergeht, stehe ich im Vorraum des Büros, und Tränen tröpfeln still und leise von meinem Gesicht auf meine Schuhe. Ich kann es immer noch nicht fassen und zum ersten, aber nicht zum letzten Mal keimt in mir die Hoffnung auf, dass es sich bei der ganzen Sache um einen Streich meines Bruders handelt, der mich auf diese Weise in die Türkei locken will, damit wir ein wenig auf den Putz hauen, so wie früher. Aber es fühlt sich nicht nach einem Streich an. Es fühlt sich nach dem Ende an. Die Haare an meinem Nacken stehen immer noch weg und fröstelnd komme ich zu mir und rufe meine Schwester an.
Als ich eine halbe Stunde danach mit dem Roller heimfahre, weine ich hemmungslos. Die Realität hat mich mittlerweile mit der Wucht eines LKWs getroffen, und wimmernd bahne ich mir einen Weg durch den Verkehr, um schnell heimzukommen. Meine Frau weiß mittlerweile Bescheid, ich musste alles dreimal wiederholen, bis sie mich verstanden hat. Meine Schwester hat an Ort und Stelle zu schluchzen begonnen und ich musste ihr versichern, dass alles gut wird und wir gemeinsam nach Antalya fliegen werden, um die Sache zu klären.
Was alles gut werden soll und was es da viel zu klären gibt, frage ich mich todunglücklich, während ich in meine Straße einbiege.
Ich parke den Roller mit weichen Knien vor meinem Haus, nehme den Helm ab, atme durch und gehe langsam nach Hause. Als meine Frau die Wohnungstür öffnet – ich schaffe es mit meinen zitternden Fingern nicht, den Schlüssel ins Schloss zu stecken – falle ich ihr um den Hals und wir weinen beide eine Zeit lang eng umschlungen. Das alles passiert tatsächlich! Ich klammere mich an sie fest und lasse meiner Verzweiflung freien Lauf.
Mein Bruder ist tot!
Gedankenverloren packe ich danach einige Kleidungsstücke und stopfe sie in eine Sporttasche. Ich habe zwei Flüge nach Antalya gebucht, vorsichtshalber bis Montag, für mich und meine Schwester. Mir fällt ein, dass meine Eltern und mein ältester Bruder noch nicht Bescheid wissen, und zitternd krame ich mein Handy hervor, nur um die nächsten Minuten in dieser Pose zu verharren, unfähig zu entscheiden, wen ich anrufen soll. Nein, meinen Eltern kann ich es nicht sagen. Nicht, solange ich nicht weiß, ob es nicht doch ein dummer Scherz ist. Mein Hirn klammert sich an diese Möglichkeit und weigert sich standhaft, sie loszulassen. Aber mein ältester Bruder sollte es erfahren. Er befindet sich, soweit ich weiß, aktuell sogar in der Türkei im Urlaub. Ich rufe ihn an, lande jedoch auf der Mobilbox. Seine Frau hebt ebenfalls nicht ab. Als ich eine meiner Nichten anrufe, erfahre ich, dass sie sich gerade auf dem Heimweg nach Wien befinden, möglicherweise sogar schon im Flugzeug. Ich nicke traurig und lege auf.
Als ich fertig gepackt habe, umarme ich meine Frau noch einmal lange und versichere ihr zum wiederholten Male, dass sie nicht mitkommen muss und ich mich um alles kümmern werde. Immerhin ist ja meine Schwester auch dabei, und ich will nicht, dass meine kleine Tochter einem Todesfall aus nächster Nähe ausgeliefert ist. Nein, ich kümmere mich darum. So wie ich mich die letzten Jahrzehnte um meinen Bruder gekümmert habe. Ich küsse meine Frau und umarme sie innig. Danach schultere ich meine Sporttasche, versichere mich noch einmal, dass ich meinen Reisepass eingesteckt habe, und mache mich auf in Richtung Flughafen.
Die Fahrt mit dem Bus vom Schwedenplatz zum Flughafen Wien ist einigermaßen trostlos. Unzählige Erinnerungen an meinen Bruder machen es unmöglich, nicht in Trauer zu ertrinken. Das letzte Mal haben wir uns vor einem halben Jahr in Kemer gesehen. Meine Schwester und ich hatten ihn ohne Vorwarnung als Überraschung besucht, und wir hatten ein großartiges Wochenende miteinander verbracht. Mir fällt die Verabschiedung ein und ich muss schlucken, als ich ihn beim Wegfahren im Heckfenster des Taxis sah, traurig winkend, sein Gewicht auf die Krücke gestützt, die ihm nach seinem Unfall vor einigen Jahren zum treuen Weggefährten geworden war. Während der Bus in Richtung Simmering schleicht, halte ich mir die Hand vor die geschlossenen Augen und versuche, nicht allzu laut vor mich hin zu schniefen.
Meine Schwester und ich umarmen uns ebenfalls lange Zeit und weinen uns gegenseitig in die Kleidung. Schließlich checken wir ein und begeben uns zum Gate. Kurioserweise fragt sie mich auch, ob das Ganze vielleicht ein dummer Versuch sein könnte, uns nach Kemer zu locken. Immerhin war das letzte Wochenende im Oktober supernett gewesen und wir hatten uns alle versprochen, es so bald wie möglich nachzuholen. Ich zucke schwach mit den Schultern und versichere meiner Schwester, dass ich ihn auf jeden Fall umbringen werde, sollte sich das Ganze als Streich herausstellen. Aber mein dummer Spruch verpufft unwirksam.
Mit grimmigem Blick sitzen wir die nächste Zeit am Gate, und in Gedanken gehe ich die Route vom Flughafen in Antalya bis nach Kemer durch. Wir werden ein Taxi brauchen, um zum Busbahnhof zu fahren, und danach einen Bus nach Kemer nehmen müssen. Das Ganze wird vermutlich um die zwei Stunden dauern. Beim Gedanken an die Busfahrt schaudert es mich, nichts ist für mich grauenhafter als türkische Busse. Die Fahrer scheinen alle zum Suizid zu neigen und die Sitze stinken meist nach Schweiß und türkischem Zitronenwasser. Sie sind notorisch unklimatisiert und die Federung ist, mit Verlaub, für’n Arsch. Ich hasse Busse!
Wir versuchen beide einige Male, unseren ältesten Bruder zu erreichen, und sprechen ihm auch Nachrichten auf seine Mobilbox mit der Bitte, uns zurückzurufen. Ich hoffe, dass ihn eine dieser Nachrichten erreicht, damit er gar nicht erst in das Flugzeug einsteigt und von Istanbul aus gleich nach Antalya fliegt, um unseren Bruder im schlimmsten Fall mit uns gemeinsam zu begraben. Aber er ruft nicht zurück und schickt uns auch keine Nachrichten. Ein Verdacht keimt in mir auf, aber ich lasse nicht zu, dass er von mir Besitz ergreift.
Die Beziehung zwischen meinen Brüdern war keine besonders gute. Ganz im Gegenteil, sie als eisig zu bezeichnen, wäre vermutlich noch die Untertreibung des Jahrhunderts. Während ich am Gate sitze und vor mich hin grüble, frage ich mich, ob er die Nachrichten erhalten hat, es aber nicht für notwendig erachtet, am Begräbnis seines Bruders teilzunehmen. Zutrauen würde ich es ihm, immerhin müsste er seinen aktuellen Flug stornieren und dann einen neuen nach Antalya buchen, Rückflug inklusive. Kostet alles Geld. Ich schüttle den Gedanken ab und versichere mir, dass er es schon nach Kemer schaffen wird. Egal, was zwischen den beiden los war, er wird kommen. So viel Charakter und Sinn für Familie wird er schon haben. Als es Zeit fürs Boarding wird, stehen wir auf, reihen uns brav ein und steigen in den Flieger, der uns nach Istanbul bringen soll.
Als wir in Istanbul gelandet sind und den Sabiha-Gökçen-Flughafen verlassen, steht die Abenddämmerung bereits bevor, und eine drückende Welle aufgeheizter Luft schlägt uns entgegen. Es riecht nach Zigaretten, Abgasen und nach Duftbäumen. Der Flug war einigermaßen erträglich. Start und Landung machen mir nach wie vor zu schaffen, aber direkt nachdem wir abgehoben sind, bin ich in einen komatösen Schlaf gefallen, aus dem mich erst das abrupte Ruckeln der Landung wecken konnte. Immer noch etwas schlaftrunken wende ich den Blick in alle Himmelsrichtungen, um ein Taxi ausfindig zu machen. Meine Schwester deutet schließlich mit dem Zeigefinger in eine Richtung, und als ich dorthin schaue, lese ich überrascht auf einem großen Schild, dass es jetzt scheinbar auch direkt am Flughafen ein Bus-Terminal mit Bussen nach Kemer gibt. Erleichtert gehen wir in diese Richtung, und kurz darauf sitzen wir bereits in einem der kleinen Busse, die wie erwartet nach Schweiß und Kolonya, dem türkischen Zitronenwasser, riechen. Die Temperatur ist absurd, und innerhalb von Minuten sitze ich schweißgebadet da und wünsche mir, diese elendige Fahrt bereits hinter mir zu haben.
Bevor es losgeht, buche ich auf meinem Smartphone für mich und meine Schwester noch je ein Zimmer in einem kleinen Hotel in der Nähe der Wohnung meines Bruders. Wir rufen seine Frau an und kündigen unsere Ankunft an. Sie weint mehr, als sie ganze Sätze von sich gibt, aber wir schaffen es, ihr klarzumachen, dass wir morgen, Samstag in der Früh, bei ihr vorbeischauen werden. Sie bittet uns, Kontakt zum Hoca aufzunehmen, der für die rituelle Waschung und Beisetzung unseres Bruders zuständig ist, und ich notiere mir seine Nummer mit einem Filzstift auf meinem Handrücken.
Dieser möchte im Grunde nur wissen, wann wir die Beisetzung gerne durchführen möchten, und als ich alles mit ihm bespreche, merke ich, wie mein Herz immer mehr sinkt. Die Chance, dass sich das alles als Scherz herausstellt, ist somit null und nichtig. Aber mein Hirn weigert sich dennoch aufzugeben. Vielleicht steckt der Hoca ja mit unter der Decke.
Der Sesamkringel, den ich mir bei der Fahrt von Antalya nach Kemer einverleibe, ist so trocken wie meine Augen nach der ganzen Weinerei. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so viel geweint zu haben, schon gar nicht als Erwachsener. Meine Augen brennen und sind knallrot, wie mir meine Schwester mehrfach bestätigt. Aber sie sieht nicht besser aus.
Unser Bruder war für uns beide ein wichtiges Familienmitglied, für mich sogar noch mehr. Immerhin habe ich meine gesamte Kindheit mit ihm verbracht, bis einige dumme Entscheidungen seinerseits und das unerbittlich jähzornige Temperament unseres Vaters dazu führten, dass er von zu Hause fort musste. Während ich an dem Simit herumknabbere, denke ich an viele Dinge, die mein Bruder und ich erlebt haben – sowohl in Wien als auch in der Türkei. Wehmütig wird mir klar, dass es keine neuen Erlebnisse geben wird, die ich in diese Liste aufnehmen kann. So wie es aussieht, endet das Ganze mit dem Wochenende im Oktober. Ein kurzer Streit an diesem letzten Wochenende mit ihm fällt mir ein, und das bitterböse Gefühl von Schuld drückt mich in meinem Sitz nieder. Eine unnötige, dumme Diskussion darüber, wer denn nun bei einem Thema recht hat. Ich schrie ihn an und hielt ihm auf offener Straße eine Standpauke, weil ich mit seiner ätzenden Art einfach nicht zurechtkam. Dabei wollte er einfach nur seinen Frust über sein verhunztes Leben von sich schreien und brauchte jemanden, den er diesbezüglich als Blitzableiter benutzen konnte. Aber anstatt zuzuhören, ballerte ich aus allen Rohren, bis er mit traurigem Blick zu mir kam, mich schluchzend umarmte, um mir zu sagen, wie leid ihm alles tat. Ich bin mir in meinem Leben noch nie kleiner und bedeutungsloser vorgekommen als in diesem Moment. Die Erinnerung an diese Szene produziert weitere Tränen, die über meine Nasenflügel rinnen, und meine Schwester wirft mir traurige Blicke zu, sagt aber nichts.
Endlich kommen wir in Kemer an. Es ist bereits dunkel, die Hitze ist jedoch immer noch unerträglich. Ich krame mein Telefon hervor und sehe nach, in welcher Richtung unser Hotel liegt. Schließlich machen wir uns zu Fuß auf den Weg und finden die Unterkunft in zehn Gehminuten Entfernung.
Wir checken ein, umarmen uns kurz und jeder bezieht sein Zimmer.
Nachdem ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen und Tränen und Straßenstaub abgespült habe, gehe ich auf den kleinen Balkon des Zimmers und sehe in die Nacht hinaus. Nur einige hundert Meter Luftlinie weiter befindet sich die Wohnung, in der mein Bruder lebt. Gelebt hat. Dass ich über ihn von nun an nur mehr in der Vergangenheitsform reden kann, versetzt mir einen weiteren Stich, und kopfschüttelnd frage ich mich, warum das alles passieren musste. 52 Jahre! Das ist doch kein Alter, um abzutreten. Ich erinnere mich an viele Gespräche, die ich mit ihm geführt hatte, über sein Gewicht und seine Unfähigkeit, das Rauchen sein zu lassen. Ich hatte ihm versichert, dass ihm die Raucherei irgendwann mal den Rest geben würde. Er hat nur gelacht und gemeint, dass Unkraut nicht vergehen würde. Während ich merke, dass die Erschöpfung von meinem Körper Besitz ergreift, wünsche ich mir, dass ich falsch gelegen hätte. Seufzend schlüpfe ich aus meiner Kleidung und lege mich ins Bett, wo innerhalb von Sekunden ein unruhiger Schlaf über mich herfällt, wie ein bengalischer Tiger.
Samstag, 21. Mai 2022
Als das schlaftrunkene Gezwitscher der türkischen Spatzen durch das gekippte Fenster zu mir dringt, ist es kurz vor sieben Uhr morgens. Der dezente Geruch von Zigaretten weht ebenfalls herein, was mich zu der Vermutung veranlasst, dass meine Schwester bereits wach ist und am Balkon raucht. Stöhnend rolle ich mich aus dem Bett und hoffe kurz, dass ich alles nur geträumt habe. Aber ich bin nicht daheim, ich bin in Kemer. Und warum sollte ich sonst hier sein? Gähnend gehe ich auf den Balkon und nicke meiner Schwester stumm zu. Sie sitzt mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl und hält ihr Gesicht der frisch aufgegangenen Sonne entgegen. Eine Zeit lang genießen wir still den morgendlichen Frieden, ehe beinahe zeitgleich ein Ruck durch unsere Körper zu gehen scheint, der uns auf die Geschehnisse vorbereiten soll, die uns erwarten. Wir sehen uns wortlos an, nicken stumm und machen uns fertig.
Obwohl uns nicht wirklich nach Frühstück ist, beschließen wir beide, dass es Sinn macht, sich diesem Tag nicht mit leerem Magen zu stellen. Langsam spazieren wir durch ein schlaftrunkenes Kemer in Richtung einer Bäckerei, in der wir im vergangenen Herbst gemeinsam gegessen hatten. Mein Bruder hatte von den köstlichen „Su-Börek“ geschwärmt, also hatten wir dem Etablissement einen Besuch abgestattet und ein fürstliches Frühstück genossen. Ganz so groß fällt unsere erste Mahlzeit heute aber nicht aus. Während die kleingeschnittenen Happen Su-Börek auf dem Teller vor mir vor sich hin dampfen, überfällt mich zum wiederholten Mal die Trauer, und mein Kinn beginnt unkontrolliert zu zucken. Meine Schwester bemerkt dies, kommt um den Tisch herum, küsst mich sanft auf die Stirn und umarmt mich so lange, bis ich mich wieder unter Kontrolle habe.
Nachdem wir weitere Male versucht haben, unseren älteren Bruder zu erreichen und dieser kein Lebenszeichen von sich gibt, beschließen wir, es dabei zu belassen und uns zu zweit um das Begräbnis zu kümmern. Wer nicht will, der will eben nicht. Wir würgen unser Frühstück herunter, ich trinke noch einen schwarzen türkischen Tee nach und bezahle anschließend die Rechnung.
Als wir das Lokal verlassen, wird mir klar, dass wir kurz davor stehen, den endgültigen Beweis dafür zu erhalten, dass unser Bruder gestorben ist. Langsam spazieren wir die Einkaufsstraße entlang, während auf beiden Seiten die Läden aufsperren und sich für einen weiteren, mehr oder weniger ertragreichen Einkaufstag wappnen. Als wir uns der Wohnung meines Bruders nähern, fällt mir wieder auf, wie eigen der Geruch der Türkei ist. Bereits als Kind fand ich die unterschiedlichen olfaktorischen Impulse überaus interessant, wobei mich am meisten der Umstand faszinierte, dass viele dieser Gerüche in Österreich nicht zu existieren schienen. Selbst als Erwachsener fällt es mir manchmal schwer, zu beschreiben, wie es in der Türkei riecht. Es riecht einfach nach… Türkei!
Während ich also den Geruch meines Herkunftslandes in mir aufsauge und meine Schwester sich eine weitere Zigarette anzündet, spazieren wir so lange weiter, bis wir irgendwann vor dem schmiedeeisernen Tor stehen, das den Eingang zu dem Haus versperrt, in dem mein Bruder wohnt. Gewohnt hat. Ich spüre, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet. Schließlich öffnen wir das Tor, gehen durch den Garten und stehen vor der Wohnungstür meines Bruders. Während ich innerlich flehend darum bitte, dass er uns lachend die Tür öffnet, uns umarmt und sich dafür entschuldigt, uns an der Nase herumgeführt zu haben, hebe ich wie im Autopilot meine Hand und klopfe schließlich an.
Die Wohnung ist genauso, wie ich sie zuletzt gesehen habe. Es ist im Grunde das Kellergeschoss eines Zweifamilienhauses. Zu mehr reichte das spärliche Geld meines Bruders und seiner Frau nicht aus. Auch wenn ich ihm jahrelang Geld geschickt hatte – er nutzte die finanziellen Spritzen meist dafür, Schulden zu begleichen, die sich im Laufe von Monaten angehäuft hatten. Ein schwerer Unfall im Jahre 2018 hatte dazu geführt, dass er nicht mehr arbeiten konnte und mit gebrochener Hüfte und Ferse die nächsten Jahre damit verbringen sollte, in seinen eigenen vier Wänden zu hausen. Doch ein soziales Auffangnetz gibt es in der Türkei nicht. Die paar Lira, die ihm der Staat zuschoss, reichten kaum für Strom und Warmwasser. Seine Frau musste arbeiten gehen, hatte als gebürtige Georgierin jedoch mit der einen oder anderen Gehässigkeit zu kämpfen, die die überaus nationalistischen Türken anderen Staatsangehörigen nur allzu gerne an den Kopf warfen. Es reichte eben mehr schlecht als recht.
Ich tat in dieser Zeit alles in meiner Macht Stehende, um meinem Bruder finanziell zu helfen. Aber manchmal reichte es eben einfach nicht aus, und in diesen Momenten ließ er all seinen aufgestauten Frust über sein schwieriges Leben an mir aus. Wir hatten nach dem Unfall einen Punkt erreicht, an dem mir endgültig klar wurde, welche Funktion ich im Leben meines Bruders hatte. Es schien, als wäre es meine Aufgabe, mich um ihn zu kümmern, was auch immer das genau bedeutete. Ich hörte auf, mich ständig zu fragen, warum seine Probleme ständig bei mir landeten, und krempelte stattdessen meine Ärmel hoch und legte mich, wo immer es ging, für ihn ins Zeug.
Und nun war er tot.
Während meine Schwägerin weinend vom letzten Tag erzählt, sehe ich mich in der Kellerwohnung um. Dort steht der Schreibtisch meines Bruders, mit seinem Computer. Diesen hatte er von seinem letzten Arbeitgeber bekommen, damit er von zuhause aus arbeiten und Geld verdienen konnte. Den Job dazu hatte er kurz nach unserem gemeinsamen Wochenende an Land gezogen, und er hatte sich gleichermaßen als Segen und Fluch erwiesen. Er konnte endlich Geld verdienen, aber dieses Geld nutzte er wenig sinnvoll für sich oder seine Gesundheit. Es wurden vielmehr alle täglichen Mahlzeiten bestellt, und von einem Tag auf den nächsten lebte er weit über seine Verhältnisse und schien sich keine Sorgen über die Zukunft zu machen. Dieses Geld, so grübelte ich düster vor mich hin, war letzten Endes dafür verantwortlich, dass er sich mehr oder weniger zu Tode gegessen hatte. Meine Schwägerin erzählt uns weinend, dass er das letzte Mal 140 kg auf die Waage brachte, sie dann unter das Bett kickte und sich weigerte, jemals wieder auf das Ding zu steigen.
140 Kilogramm. Ich schüttle fassungslos meinen Kopf.
Während meine Schwester unserer weinenden Schwägerin zuhört, lasse ich meinen Blick weiter durch den Raum schweifen. Der Stiefsohn meines Bruders sitzt still in einer Ecke und beobachtet uns mit bleichem Gesicht. Laut seiner Mutter hat er den Herzinfarkt hautnah miterlebt, was man ihm auf den ersten Blick ansieht. Ich habe ihn nicht oft gesehen, wir kennen uns im Grunde kaum. Ich stehe auf und gehe zu ihm hinüber, setze mich neben ihn und lege ihm meinen Arm um die Schultern. Er nickt stumm, als ich ihn frage, ob es ihm gut geht. Man sieht, dass es nicht so ist. Ich drücke ihn fest und versichere ihm, dass alles gut werden wird. Er nickt erneut und sieht mich aus traurigen Augen an. Ich frage mich, was im Kopf eines Kindes vorgeht, das innerhalb von einigen Jahren zweimal einen Vater verliert.
Meine Schwägerin erklärt uns, dass der Hoca mit ihr gesprochen hat und die Beisetzung unseres Bruders auf morgen, Sonntag, festgelegt wurde. Um 11 Uhr. Wir versprechen, dass wir vorher hier vorbeischauen werden, um die beiden abzuholen und dann gemeinsam zum Krankenhaus zu fahren, das sich neben dem großen Friedhof in Kemer befindet. Beim Gedanken daran, morgen den toten Körper meines Bruders zu sehen, sträuben sich mir erneut alle Nackenhaare, und es fröstelt mich wie im Winter.
Bevor wir gehen, fragt uns meine Schwägerin noch, ob wir uns etwas mitnehmen möchten, das uns an unseren Bruder erinnert. Ich schüttle traurig den Kopf, sehe dann aber in einer Ecke einen Wäscheständer, auf dem einige Shirts hängen. Ich frage sie, ob da etwas von meinem Bruder hängt, und sie geht rüber, nimmt ein weiß-blaues Poloshirt ab, legt es zusammen und überreicht es mir. Unfähig, etwas zu sagen, drehe ich mich um und verlasse die Wohnung. Hinter mir höre ich noch, wie sich meine Schwester verabschiedet und mir schließlich auf die Straße folgt.
Als sie neben mir stehen bleibt, habe ich meine Nase in dem Shirt vergraben und nehme den Geruch auf. Danach halte ich es ihr hin, und sie nickt stumm. Es riecht, obwohl es frisch gewaschen wurde, immer noch nach ihm.
Den restlichen Tag gehen wir ziellos in Kemer auf und ab, unfähig zu akzeptieren, was wir morgen tun müssen. Abends sitzen wir im Garten eines Restaurants, beide einen nahezu vollen Teller vor uns. Meine Schwester raucht, und ich brüte düster vor mich hin. Wir haben erneut mit dem Hoca gesprochen, und er hat versichert, dass morgen Vormittag alles stattfinden wird. Einem Impuls nachgebend, rufe ich ein letztes Mal bei meinem älteren Bruder an, und entgegen meinen Erwartungen hebt er ab.
Wir telefonieren eine Zeitlang, aber es wird schnell klar, dass er nicht kommen wird. Es sei ja schon zu spät, und er wäre ja gerade erst aus der Türkei in Wien angekommen, und wo sollte er denn jetzt so schnell ein Ticket herkriegen, und der Urlaub sei ja schon so teuer gewesen. Ich höre mir seine Ausreden grimmig an, und irgendwann lege ich auf. Unendlich enttäuscht sehe ich meine Schwester an, und sie zuckt fassungslos mit den Schultern, als wäre ihr sowieso die ganze Zeit klar gewesen, dass er nicht kommen wird.
Charakter kann man eben nicht kaufen.
Als mir klar wird, dass wir diese Angelegenheit zu zweit erledigen müssen, sinkt mein Herz ins Bodenlose. Aber ich atme durch, trinke meine Limo aus, und wir verlassen das Restaurant und spazieren langsam zum Hotel zurück. Wir trinken noch einen Tee im Garten des Hotels und besprechen, wann und wie wir unseren Eltern vom Tod unseres Bruders erzählen sollen, und entscheiden, dass wir das gemeinsam in Wien machen werden. Mir graut vor dem Gedanken, meiner Mutter davon zu berichten – immerhin war unser Bruder ihr Lieblingskind, wenn es denn so etwas gibt. Aber ich denke dabei an meinen Vater und die Tatsache, dass ich sein Lieblingskind bin, und nicke einfach nur stumm vor mich hin.
Während etwas später meine Schwester auf dem Balkon ihres Zimmers sitzt und eine Zigarette nach der anderen raucht, liege ich auf dem Bett in meinem Zimmer und höre sie regelmäßig durchs gekippte Fenster seufzen. Sie war immer wie eine Mutter für mich und meinen drei Jahre älteren Bruder, mehr sogar noch als unsere tatsächliche Mutter. Die war immer nur arbeiten, und zig andere Dinge waren stets wichtiger. Also musste meine Schwester übernehmen, und sie kümmerte sich aufopfernd um ihre jüngeren Geschwister.
Ich frage mich, langsam in den Schlaf driftend, ob sie weiß, wie wichtig sie für mich ist und ob ich ihr das überhaupt jemals gesagt habe. Meinem verstorbenen Bruder habe ich das ja im Grunde auch immer verheimlicht. Als mir bewusst wird, dass ich es ihm tatsächlich nie gesagt habe, überkommt mich eine Trauer, der ich mich zitternd hingebe, bis ich vollkommen erschöpft einschlafe.
Nachdem ich geduscht habe, stehe ich nass vor dem kleinen Spiegel im Badezimmer und sehe mich an. Die Ringe unter meinen Augen sind kriminell, und ich fühle mich, als wäre ich zwei Marathons hintereinander gelaufen. Ich habe zwar durchgeschlafen, bin aber weit entfernt von ausgeruht. Mein Hirn ist im Alarmzustand, weil es weiß, was mir heute bevorsteht. Beim Gedanken daran, meinen toten Bruder zu sehen, beginne ich zu hyperventilieren, bis mir schwarz vor den Augen wird. Mit letzter Kraft klammere ich mich am Waschbecken fest und erbreche gelbe Gallenflüssigkeit hinein, ehe ich krachend zu Boden gehe und dort schwer atmend liegen bleibe, bis ich wieder aufstehen kann.
Als ich meine Schwester auf der Terrasse des Hotels treffe, stelle ich fest, dass sie genauso fertig aussieht wie ich. Sie hat kaum geschlafen, und ihre roten Augen sind Beweis genug, womit sie sich die ganze Nacht die Zeit vertrieben hat. Wir besprechen kurz den Zeitplan, ehe wir einen Tee trinken und beide beschließen, das Frühstück sausen zu lassen.
Das Taxi lässt uns vor dem Haus meines Bruders aussteigen, und ich bitte den Fahrer, einfach zu warten, bis wir wieder zurückkommen. Er fragt mehrmals nach, ob er wirklich warten soll, und ich nicke müde. Scheinbar ist das in der Türkei nicht üblich, aber ich habe absolut keine Lust, ein neues Taxi zu suchen, das uns zum Spital bringt.
Meine Schwägerin erscheint, komplett in Schwarz gekleidet, hinter dem Haus und kommt auf uns zu. Ihr Sohn, immer noch bleich, trottet ihr widerwillig nach und bleibt in einiger Entfernung stehen. Wir nicken uns schließlich alle zu und steigen danach ins Taxi, das durch die immer heißer werdende Stadt langsam zum Krankenhaus in Kemer fährt.
Während der Fahrt sitze ich auf dem Beifahrersitz, sehe aus dem offenen Fenster und frage mich laufend, ob mein Bruder jemals in diversen Geschäften oder Restaurants war, die wir passieren. Ich spüre, wie meine Hände zu zittern beginnen, balle sie schnell zu Fäusten und vergrabe sie in meinem Schoß. Ich atme kontrolliert und versuche, keine Panik aufkommen zu lassen.
Alles wird gut. Alles wird gut. Alles wird gut.
Ich muss nur den heutigen Tag überstehen, danach wird alles einfacher. Davon bin ich überzeugt. Während ich mir noch selbst Mut zuspreche, hält das Taxi, und wir steigen vor dem großen Gebäude aus. Der Hoca, ein relativ groß gewachsener, junger Mann mit derben Gesichtszügen, kommt aus dem Hauptgebäude und begrüßt uns mit einem Kopfnicken. Er erklärt uns, dass er noch einige organisatorische Dinge regeln müsse, es danach aber sehr schnell gehen werde. Wir mögen doch so lange da vorne auf der Parkbank warten.
Erleichtert denke ich für den Bruchteil einer Sekunde, dass ich vielleicht gar nicht mit reingehen muss, als er seinen stechenden Blick auf mich richtet und mich fragt, ob ich auch darauf eingestellt sei, mit ihm in den Leichenaufbewahrungsraum zu gehen. Meine Hände beginnen erneut zu zittern und ich atme wieder schneller. Ich frage ihn kleinlaut, ob ich denn wirklich müsse. Seine Züge werden ernst, als er sich vorbeugt, um mir zu antworten. Ich sei der einzige Mann in dieser Gruppe, und ich möge mich gefälligst auch wie einer benehmen. Das Blut, das mir daraufhin ins Gesicht schießt, weigert sich, die nächste Zeit wieder in andere Gefilde zu sickern, und als ich mich zu meiner Schwester auf die Parkbank setze, fragt sie mich, ob alles okay sei. Ich nicke lahm und reibe mir die pochenden Schläfen.
Ich will das nicht. Ich will nicht, dass das letzte Bild, das von meinem Bruder in meinem Kopf lebt, das seines toten Körpers ist. Ich will ihn so in Erinnerung behalten, wie ich ihn die letzten Jahrzehnte gekannt habe. Und wieso zum Teufel muss ich mich eigentlich um diese Sache kümmern? Wo ist mein älterer Bruder? Wo ist mein Vater? Immerhin bin ich der Jüngste – warum lastet diese ganze Sache eigentlich auf meinen Schultern? Warum bin ich immer derjenige, der sich um diese Dinge kümmern muss? Die Antwort ist jedoch denkbar einfach:
Niemanden kümmert es einen Dreck, und ich bin der Einzige, der vor Ort ist.
Natürlich versucht mir meine Schwester eine Stütze zu sein. Aber auch im Jahr 2022 ist die Türkei noch so hinterwäldlerisch, und Beerdigungen und Frauen haben in Sachen Tod – und eigentlich in vielen anderen Angelegenheiten – genau nichts mitzureden. Sie dürfen offiziell nicht mal an der Beisetzung ihrer Männer teilnehmen und müssen sich abseits aufhalten, während ein Haufen teils wildfremder Männer sich um das Zuschaufeln eines Grabes kümmern, dessen Bewohner sie möglicherweise kaum kannten.
Nachdem mir die Hitze extrem zu schaffen macht, stehe ich auf und suche in der Nähe nach einem Laden, wo ich uns allen Wasser kaufen kann. Als ich einen finde, trinke ich einen Liter direkt vor Ort aus und kaufe dann weitere Flaschen, die ich an alle verteile, als ich wieder bei der Parkbank ankomme. Neben der Bank führt eine Rampe nach unten, ins Kellergeschoss des Spitals. Hier halten immer wieder Rettungsfahrzeuge und laden etwas ein oder aus. Ich beobachte das eine Zeit lang, und als mir klar wird, dass es sich um tote Körper handelt, die hier ein- und ausgeladen werden, stehe ich schnaufend auf und gehe eine Runde spazieren.
Alles wird gut. Alles wird gut. Alles wird gut.
Als ich zurückkomme, kommt der Hoca gerade die Rampe hoch, und als er mich sieht, bleibt er stehen und händigt mir einen Zettel aus. Als ich ihn inspiziere, stelle ich fest, dass es sich um den Totenschein handelt. Ich schlucke, falte ihn zusammen und stecke ihn in meine Hosentasche. Was auch immer darin steht, kann und will ich jetzt nicht lesen. Der Hoca lächelt freundlich, und während er sich umdreht, um die Rampe wieder hinunterzugehen, deutet er mir mit dem Zeigefinger, ihm zu folgen. Ich zeige meiner Schwester, die besorgt in meine Richtung blickt, aufmunternd den Daumen nach oben. Danach atme ich tief durch, versuche, nicht allzu viel nachzudenken, und gehe dem Hoca nach.
Als ich das Gebäude durch die große Doppeltür betrete, fällt die Temperatur spürbar. Das blaue Licht der Leuchtstoffröhren lässt alles zusätzlich kalt und unbequem aussehen. Der stechende Geruch, der mich nach ein paar Metern überfällt, ist so einzigartig, dass ich ihn in keine Schublade stecken kann. Noch nie und nirgendwo habe ich etwas Derartiges gerochen. Der Hoca steht weiter vorne bei einer weiteren Tür und hält sie geduldig für mich auf. Ich gehe hindurch und befinde mich schließlich in einem Raum, in dem sich auf der rechten Seite drei Liegen aus Metall, mit einem Loch in der Mitte, befinden, während der gesamte linke Bereich des Raums aus einem riesengroßen Kühlschrank besteht, mit zehn einzelnen Türen.
Der Hoca kommt auf mich zu und erklärt mir, was nun passieren wird. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass ich ihm helfen muss, den Körper meines Bruders von der mobilen Liege auf die Metallliege zu hieven, auf welcher er die rituelle Waschung erhalten soll. Ich nicke mit taubem Gesicht und atme erneut tief durch.
Nichts kann mich jedoch auf den nächsten Anblick vorbereiten. Die Tür zu einer ausziehbaren Lade wird geöffnet, und der Hoca zieht diese komplett heraus, bis der Leichnam meines Bruders zur Gänze vor mir erscheint. Ein weißes Tuch liegt über seinem dicken Körper, und als mein schockierter Blick in Richtung seines Kopfes wandert, stelle ich fest, dass dieser nur so von eingetrockneten Blutflecken strotzt. Der Anblick erschüttert mich bis ins Mark, der Hoca nimmt davon jedoch keine Notiz. Er fährt ein Gestell unter die Lade, löst diese von den Schienen und fährt Liege samt Leichnam schließlich in den rechten Teil des Raumes. Als er an mir vorbeifährt, schluchze ich unkontrolliert auf und drücke mir sofort meine Faust zwischen die Zähne. Der Hoca ignoriert diesen Laut und bittet mich, mit anzupacken. Er parkt meinen Bruder neben der mittleren Liege, und erst da bemerke ich, dass die Liege eine Art Metallschale zu sein scheint. Ich packe diese am Kopfende, der Hoca übernimmt das Fußende, und gemeinsam heben wir unter großer Anstrengung die Schale an und kippen sie so, dass mein Bruder auf die Metallliege rutschen kann.
Während ich mich noch frage, warum er in einer Flüssigkeit liegt, wird mir auch schon bewusst, worum es sich dabei handelt, und während mein armer Bruder samt Körperflüssigkeiten auf die Liege rutscht, trifft mich der dazugehörige Geruch in der Nase wie ein Aufwärtshaken.
Genau an diesem Tag, in diesem Raum, in diesem Moment stirbt ein Teil von mir.
Ich beiße auf meine Unterlippe, bis ich Blut schmecke, und als ich mich einigermaßen beruhigt habe, lege ich meinem toten Bruder die Hand auf den Bauch, der unter dem weißen Tuch weit nach oben ragt.
Er ist eiskalt.
Ich verabschiede mich still. Nichts auf der Welt würde mich dazu bringen, das blutbesudelte Kopfende des Tuches hochzuheben, um mich zu vergewissern, dass es sich tatsächlich um meinen Bruder handelt. Ich schaffe es einfach nicht. In diesem Moment bin ich ein fünfjähriges Kind, das diesen furchtbaren Raum einfach nur verlassen will.
Der Hoca hat scheinbar mitbekommen, dass von mir keine weitere Hilfe zu erwarten ist. Er dankt mir und versichert mir, dass er den Rest auch alleine schaffe, und bittet mich, solange er mit der Waschung beschäftigt ist, draußen zu warten, weil ich dann noch den letzten Teil des Rituals vollziehen müsse. Ich nicke und verlasse den Raum.
Die Bilder der letzten Minuten prasseln erneut auf mich ein, und ich zweifle sehr stark daran, dass ich es jemals schaffen werde, sie zu vergessen. Ich gehe den Gang auf und ab und schüttle dabei meine Hände, die komplett taub geworden sind. Ich habe Angst, erneut zu hyperventilieren, also lehne ich mich an die kalte Wand, schließe die Augen und konzentriere mich auf meinen Atem. Ein, aus, ein, aus, ein, aus.
Als mich der Hoca erneut in den Raum bittet, bin ich einigermaßen gefasst. Mit weichen Knien gehe ich ein weiteres Mal durch die Tür und direkt weiter bis zur Liege, auf der mein Bruder nun komplett von Kopf bis Fuß in ein sauberes, weißes Leichentuch eingewickelt liegt. Der Hoca gibt mir eine Flasche Wasser in die Hand und erklärt mir, dass es meine Aufgabe als Familienmitglied sei, dieses Wasser über dem gesäuberten, eingewickelten Körper meines Bruders zu verschütten. Ich nehme die Flasche, und ohne dass ich etwas dagegen tun kann, beginnen erneut die Tränen zu fließen. Ich verabschiede mich erneut und danke ihm für alles, was er für mich getan hat und dass es ihn in meinem Leben gegeben hat. Dabei schüttle ich die offene Flasche über seinem Leichnam hin und her, und das Wasser plätschert so lange, bis die Flasche leer ist. Der Hoca nimmt sie mir schließlich ab, klopft mir aufmunternd auf die Schulter und bittet mich, nun wieder zu den anderen zu gehen. Wortlos drehe ich mich um und verlasse den Raum.
Die nächste halbe Stunde sitze ich mit starrem Blick und offenem Mund auf der Parkbank und schaffe es nicht, die Fragen meiner Schwester zu beantworten. Sie sieht, dass ich ziemlich im Eimer bin, und hängt sich besorgt an meinem Arm und lehnt ihren Kopf an meine Schulter. Ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll, also bin ich einfach still und sehe ins Nichts, während die Bilder der letzten halben Stunde noch vor meinem geistigen Auge nachflackern.
Während wir auf den Hoca warten, der die Beisetzung vornehmen wird, höre ich, wie meine Schwägerin mit meiner Schwester darüber redet, wie es nach der Beerdigung weitergeht. Es werden scheinbar einige Gäste kommen, und wir müssen dafür einige Dinge besorgen – hauptsächlich Getränke und Essbares. Der Gedanke, dass es auch in der Türkei so eine Art Leichenschmaus zu geben scheint, überrascht mich und sorgt dafür, dass ich aus meiner Lethargie gerissen werde. Ich bitte meine Schwägerin, mich um die Besorgung der Getränke und Speisen kümmern zu dürfen, und sie nickt dankbar.
Während wir noch besprechen, was für Speisen denn am meisten Sinn machen würden, erscheint der Hoca und gibt uns ein Zeichen, dass es losgeht.
Ein kleiner Kastenwagen schiebt unter lautem Gepiepe die Rampe zurück und bleibt vor der Liege stehen, die der Hoca hinausgeschoben hat. Der eingewickelte Körper meines Bruders wird unter lautem Gestöhne von zwei weiteren Spitalsangestellten und dem Hoca in einen offenen Sarg gehoben und danach auf die Ladefläche des Kastenwagens geschoben und gesichert. Alles wird ein letztes Mal überprüft, und der Hoca nickt uns zur Bestätigung zu, dass es nun losgeht.
Der Friedhof in Kemer liegt genau neben dem Grundstück, auf dem das Krankenhaus gebaut wurde. Während der Kastenwagen im Schritttempo vorausfährt, trotten wir in der Mittagshitze hinterher – der Hoca, meine Schwägerin mit ihrem Sohn, meine Schwester und ich. Ich erfahre, dass der Hoca in Eigenregie ein paar Freunde angerufen hat, damit sie uns helfen, den Körper meines Bruders vom Rand des Friedhofes bis zum Grab zu tragen. Er war einigermaßen überrascht, als wir ihm vormittags mitteilten, dass wir die einzigen Personen sind, die am Begräbnis teilnehmen würden. Nachdem er den Körper meines Bruders gesehen hatte, war ihm klar, dass wir hier Unterstützung brauchen würden.
Bevor ein toter Moslem der Erde übergeben wird, gibt es noch ein Gebet, das in der Gruppe gehalten wird. Natürlich nehmen hier nur Männer teil, die Frauen haben sich im Hintergrund zu halten und leise zu trauern. Die Zeiten, als ich mit meinem Vater in die Moschee ging, um an Feiertagsgebeten teilzunehmen, sind Jahrzehnte her, und ich habe keine Ahnung, was ich tun muss. Ich bin taub vor Trauer, erschöpft, durstig und auch nicht religiös. Ich wünschte, dieser Tag würde einfach nur enden.
Als der Wagen unter einem überdachten Parkplatz neben dem Friedhof hält, bemerke ich einige fremde Personen, die dort schon auf uns zu warten scheinen. Es handelt sich dabei um Freunde des Hocas, und wie es aussieht, hatte dieser mit seiner Vermutung recht, dass wir zu zweit gescheitert wären. Zu sechst heben sie den offenen Sarg mit meinem Bruder von der Ladefläche und tragen ihn einige Meter weiter, wo sie ihn auf einem Steintisch platzieren. Hier findet kurz darauf auch das Gebet statt.
Ich stehe in Reih und Glied mit Menschen, die ich nicht kenne, höre hinter mir meine Schwester und Schwägerin weinen, während der Hoca laut irgendwelche Verse aus dem Koran spricht. Ich mache einfach das, was die anderen machen, während erneut dicke Tränen stumm aus meinen Augen fließen. Das Gebet endet Gott sei Dank rasch, und die Männer schütteln mir alle die Hand und sprechen ihr Beileid aus.
Danach stellen sich alle um den offenen Sarg herum und hieven ihn vom Steintisch herunter. Ich packe einen Griff, und langsam beginnen wir, einen kleinen Weg entlangzugehen, der uns zum frisch ausgehobenen Grab bringen soll, in dem mein armer Bruder bis in alle Ewigkeit verweilen wird.
Ich frage mich, was das alles soll. Wozu das Ganze? Man reißt sich jahrzehntelang den Arsch auf, nur um am Ende in einer Grube verscharrt zu werden? Wie bereits erwähnt, bin ich kein religiöser Mensch. Je mehr mein Vater mich in meiner Kindheit und Jugend damit bombardiert hat, desto mehr habe ich mich davon distanziert. Wie kann es auch sein, dass man in Sachen Religion nicht fragen darf, warum bestimmte Dinge sind, wie sie sind? Man hat den Islam nicht zu hinterfragen – immerhin handelt es sich um das Wort Allahs, und welchem Sterblichen steht es schon zu, das Wort Gottes infrage zu stellen? Mir war als Kind schon klar, dass diese Geschichten alle mehr als fragwürdig waren, und die einzig logische Konsequenz war die, dass ich Religion immer öfter in einer Truhe in mir versperrte, ohne diese jemals wieder zu öffnen.
Das Grab meines Bruders befindet sich knapp 150 Meter weiter den Weg entlang. Keuchend und stöhnend erreichen wir das idyllische Plätzchen, direkt unter einem riesigen Nadelbaum. Zwei Arbeiter stehen abseits und rauchen Zigaretten, die furchtbar stinken. Sie haben das Grab ausgehoben – wie am Hügel daneben unschwer zu erkennen ist – und warten darauf, dass wir die Zeremonie zu einem raschen Ende bringen. Meine Schwester und die Schwägerin samt Sohn bleiben in zehn Metern Abstand stehen und beobachten alles. Der Hoca nimmt mich an der Schulter und erklärt mir, dass ich als männliches Familienmitglied ins Grab steigen und den Körper meines Bruders der Erde übergeben muss. Ich nicke lahm und gehe zurück zum Grab.
Während der Hoca ein kurzes Gebet spricht, heben die unbekannten Männer meinen Bruder aus dem offenen Sarg. Ich bin inzwischen neben dem Grab in die Hocke gegangen und etwas unbeholfen hineingesprungen. Das beklemmende Gefühl, das mich hier überfällt, ist schwer zu beschreiben. Während die Männer den Leichnam meines Bruders herübertragen, muss ich ständig daran denken, dass hier Endstation für ihn ist. Als sie beim Grab ankommen, strecke ich die Arme nach oben und versuche, ihn mithilfe von zehn starken Armen so gut es geht langsam ins Grab herunterzulassen. Ich drehe ihn noch auf die rechte Seite, so wie es der Hoca mir aufträgt, und als er seine endgültige Position gefunden hat, hocke ich mich so gut es geht hin und lege ihm ein letztes Mal meine rechte Hand auf die Brust. Ich könnte tausend Dinge sagen, aber ich weine still und heimlich in mich hinein und verabschiede mich ein letztes Mal.
Danach ziehen mich zwei Hände aus dem Grab, und jemand drückt mir eine Schaufel in die Hand. Verwirrt sehe ich das Werkzeug an, aber der Fremde flüstert mir zu, dass ich beginnen müsse, Erde in das Grab zu schaufeln – den Rest würden danach die Arbeiter erledigen. Ich positioniere mich also neben dem Erdhaufen und beginne zuerst langsam, dann immer schneller, die rostige Spitze der Schaufel in den Erdhaufen zu rammen und danach über das Grab zu schaufeln. Rotz und Tränen rinnen mir vom Gesicht, und ich sehe kaum etwas, aber ich schaufle so lange und so wild, bis mir jemand sanft eine Hand auf die Schulter legt und mir versichert, dass es gut ist. Ich gebe die Schaufel weiter und gehe zu meiner Schwester. Wir umarmen uns fest, während hinter uns das Grab komplett zugeschaufelt wird. Der Hoca dankt allen, die gekommen sind, und führt uns langsam vom Friedhof, bis wir wieder vor dem Haupteingang des Krankenhauses stehen.
Dort setze ich mich auf eine Bank und starre in die Ferne.
Mein Bruder ist tot. Kein Scherz, keine List. Er liegt in einer Grube in Kemer, und ich werde ihn nie wieder sehen oder mit ihm telefonieren. Beim Gedanken daran, dass ich das alles in naher Zukunft meinen Eltern klarmachen muss, wird mir übel, und ich würge etwas Gallenflüssigkeit hoch, die ich sofort angewidert in den Busch hinter mir spucke.
Ich brauche einen Schnaps.
Meine Schwester ruft uns ein Taxi, und kurze Zeit später bleibt dann auch schon ein gelber Wagen neben uns stehen. Wir steigen ein und sehen zu, dass wir diesen furchtbaren Ort so schnell wie möglich verlassen.
Nachdem wir unsere Schwägerin und ihren Sohn bei ihnen daheim abgeladen haben, fahren wir mit dem Taxi weiter in die Stadt und bleiben bei einem Restaurant stehen, das uns die Speisen für den anstehenden Leichenschmaus liefern soll. Laut Taxifahrer stimmen die Preise, und die Qualität sei auch phänomenal. Immer noch benommen steige ich aus dem Wagen und torkle durch die offene Eingangstür in einen dunklen Vorraum, wo ich sofort von einem dünnen Kerl mit noch dünnerem Schnurrbart empfangen werde. Er nimmt fröhlich meine Bestellung auf – ich bestelle viel zu viel – und versichert mir, nachdem ich alles bezahlt habe, dass das Essen an der von mir angegebenen Adresse zeitgerecht geliefert wird. Auf meine Frage, wo ich am besten Getränke kaufen könne, lacht er nur kurz und empfiehlt mir einen Supermarkt. Na, wo denn sonst? Kopfschüttelnd über meine Dummheit, danke ich ihm und verlasse das Restaurant.
Wir fahren mit dem Taxi weiter und halten dann vor einem riesigen Supermarkt, wo ich so viele Getränke einkaufe, dass 50 Personen zwei Wochen lang damit auskommen könnten. Kurz darauf sitze ich wieder im Taxi, und wir fahren zum Hotel zurück. In drei Stunden kommt der Hoca zu unserer Schwägerin, und alle möglichen Nachbarn schauen vorbei, um uns ihr Beileid auszusprechen und sich – wenn sie schon mal da sind – den Bauch mit all den Köstlichkeiten vollzuschlagen, die ich für sie bestellt habe. Ich bezahle den Taxifahrer und bitte ihn, uns in knapp drei Stunden wieder abzuholen. Er nickt fröhlich, bedankt sich und fährt davon.
Ich sehe ihm nach und muss an den Moment im vergangenen Oktober denken, als ich meinen Bruder das letzte Mal durch das Heckfenster eines Taxis sah. Seufzend gehe ich meiner Schwester ins Hotel nach, und wir gehen in unsere Zimmer, um uns ein wenig auszuruhen.
Obwohl ich mich fühle, als hätte ich seit einer Woche nicht geschlafen, gehen mir tausend Dinge durch den Kopf, und ich liege wach auf dem Bett und grüble vor mich hin. Ich denke an meine Eltern und daran, wie sie den Tod meines Bruders aufnehmen werden. Meinen Vater wird es vermutlich nicht allzu sehr treffen, aber ich mache mir große Sorgen um meine Mutter. Sie hatte in den letzten Jahrzehnten bereits zwei Herzinfarkte und ist gesundheitlich etwas angeschlagen. Eine aufgekommene Demenz macht ihr – und meinem Vater – das Leben einigermaßen schwer, und ich habe keine Ahnung, wie sie auf die Information reagieren wird, dass ihr zweitjüngstes Kind gestorben ist.
Ich denke an meinen Job und daran, wie sehr ich ihn hasse. Ich kann mir kaum vorstellen, nach diesem Wochenende zurückzukehren und weiter in diesem gehirnamputierten Beruf tätig zu sein, als wäre nichts passiert. Nicht nach all dem, was ich hier erlebt und gesehen habe. Ich rufe meine Frau an und erzähle ihr vom Begräbnis. Die ganzen Details lasse ich aus – immerhin habe ich das Geschehene selbst noch nicht wirklich verarbeitet. Als ich aufgelegt habe, ziehe ich mich aus und stelle mich unter die Dusche. Eine halbe Stunde lang stehe ich unter dem heißen Wasser, als könnte es die Taubheit aus meinem Körper spülen. Als ich mich danach mit einem riesigen Handtuch abtrockne, überfällt mich eine plötzliche, bleierne Müdigkeit, und ich schaffe es nur mit Müh und Not ins Bett, wo mich der Schlaf übermannt, bevor mein Kopf das Kissen berührt.
Einige Stunden später sitze ich im Schatten eines großen Baumes und sehe wildfremden Menschen dabei zu, wie sie über das Buffet herfallen, das wir ihnen hergerichtet haben. Unmengen an Essbarem plus Getränke für eine ganze Kompanie stehen herum, und man merkt, dass diese Art von Zusammentreffen selten ein derart großzügiges Catering aufweist. Die Leute stopfen sich Essen in ihre Gesichter und Taschen und lachen dabei, ganz so, als wäre gar nichts passiert. Ich verziehe angewidert den Mund und schlürfe meinen schwarzen Tee. Meine Schwester unterhält sich mit dem Hoca und ist nett und freundlich zu allen. Mir hingegen gehen alle furchtbar auf die Nerven.
Mein Bruder liegt tot in der Erde, und diese Kretins denken nur an ihren Scheißmagen. Ich stehe auf und spaziere ein wenig im Garten hin und her, um das kribbelnde Gefühl aus meinen Beinen zu vertreiben. Der Hoca kommt zu mir her und fragt mich, wie es mir geht. Ich danke und versichere ihm, dass ich klarkomme. Er hat mich im schlimmsten Moment meines Lebens gesehen und fragt sich zu Recht, ob ich die ganze Sache ohne gröberen Schaden überstehen werde. Aber was gibt es da schon groß zu überstehen? Mein Bruder ist tot, und ich werde lernen müssen, damit zu leben.
Er legt mir eine Hand auf die Schulter und erklärt mir, dass ich eine sehr wichtige und edle Tradition aufrechterhalten habe, indem ich meinem Bruder diesen letzten Dienst erwiesen habe, und dass ich mich glücklich schätzen sollte, diese Möglichkeit gehabt zu haben. Andere Menschen hätten nicht so viel Glück. Ich sehe ihm stumm ins Gesicht, behalte jedoch jede einzelne, gemeine Antwort für mich, die ich ihm in diesem Moment am liebsten ins Gesicht schreien würde. Es ändert ja nichts. Ich danke ihm stattdessen lahm und gehe wieder zurück zu meinem Sessel, wo ich einen weiteren Tee trinke und den Leuten dabei zusehe, wie sie sich zu Tode fressen. Ganz so wie mein Bruder.
Nachdem das restliche Essen und die Getränke auf alle Besucher aufgeteilt werden, bedanken sich alle artig und gehen in ihre Häuser. Wir räumen den Rest weg, machen sauber und verabschieden uns schließlich von unserer Schwägerin. Sie bittet uns noch, ihr auf jeden Fall Bescheid zu geben, wenn wir das Grab meines Bruders herrichten lassen – sie möchte sich nämlich unbedingt finanziell daran beteiligen. Wir versprechen ihr, dass wir das tun werden, aber ich weiß schon, dass ich die Kosten für das Grab meines Bruders selbst übernehmen werde. Niemand – mit Ausnahme meiner Schwester – hat sich die letzten Jahrzehnte einen feuchten Dreck um ihn gekümmert, warum also sollte ich die letzten Ausgaben nicht auch selber übernehmen?
Wir verabschieden uns und spazieren zu unserem Hotel zurück. Nach einer kurzen Pause fahren wir mit dem Taxi in die Stadt, um dort etwas zu essen. Wie vermutet lässt unser Appetit uns jedoch wieder jämmerlich im Stich, und nachdem wir ein wenig in unserem Essen herumgestochert haben, stehen wir auf und spazieren ein wenig durch die Gegend.
Alles in mir schreit danach, mich mit Alkohol zu betäuben, also setzen wir uns vor einen Irish Pub, und ich bestelle mir eine Flasche Bier. Aber egal wie sehr ich mich bemühe, ich schaffe es nicht einmal, dieses Bier auszutrinken. Mein Geist schreit, und mein Herz ist gebrochen – ich kann das Klirren der Scherben bei jedem Schritt hören, den ich durch Kemer gehe.
Wir reden viel über meinen Bruder, meine Schwester und ich. Sie versucht, mich damit zu trösten, dass es ihm jetzt wenigstens besser geht, wo auch immer er ist. Aber wo soll das sein? Im Himmel? Auf einer Wolke? Es gibt nichts, was uns nach dem Tod erwartet, dessen bin ich mir sicher. Genauso wie man sich nicht an die Zeit erinnern kann, bevor man geboren wurde, hört man auf zu existieren, wenn man stirbt.
Aber ich sage nichts dazu.
Unser Bruder wird existieren, solange ich an ihn denke. Der Gedanke, ihn vergessen zu können, erschreckt mich über alle Maßen, und ich verspreche mir selbst hoch und heilig, dies bis zu meinem letzten Atemzug nicht zuzulassen.
Wir beenden den Abend einigermaßen früh – immerhin geht unser Flug zeitig am nächsten Tag, und wir müssen noch mit dem Taxi von Kemer nach Antalya fahren und einchecken. Wir gehen zurück zum Hotel, wo ich meine Sachen packe und mich nach einem weiteren Telefonat mit meiner Frau zeitig ins Bett lege. Während ich die nächste Zeit die Möglichkeit in Betracht ziehe, dass das alles tatsächlich ein Traum gewesen sein könnte, falle ich in einen tiefen Schlaf.
Montag, 23. Mai 2022
Das Taxi bringt uns zeitig in der Früh zum Flughafen in Antalya. Auf dem Weg döse ich noch ein wenig vor mich hin, irgendwie schaffe ich es nicht richtig, wach zu werden. Mein Hirn hatte immer schon die Fähigkeit, in Stresssituationen die Flucht in Richtung Schlaf anzutreten – ich kenne dieses Gefühl also nur allzu gut.
Nach dem Check-in sitzen wir schweigend am Gate und warten darauf, dass uns der Flieger nach Hause bringt. Erneut muss ich an meine Eltern denken, und meine Schwester willigt ein, dass wir das Ganze am besten gleich morgen Vormittag hinter uns bringen. Ich schreibe meinem älteren Bruder eine Nachricht und bitte ihn, um zehn Uhr vor dem Haus meiner Eltern auf uns zu warten, damit wir ihnen die traurige Kunde gemeinsam überbringen können.
Tausende Gedanken an meinen verstorbenen Bruder begleiten mich die ganze Reise über, und ich erzähle meiner Schwester viele Anekdoten aus unserer Kindheit. Wir schaffen es tatsächlich, über das eine oder andere zu lachen, aber unsere Herzen bluten immer noch, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird.
Beim Gedanken an meinen Job wird mir übel, und ich beschließe, mir ernsthaft Gedanken über meine Zukunft in dem Drecksladen zu machen, sobald ich diese Sache halbwegs überstanden habe. Keine Anstellung der Welt ist es wert, sich tagtäglich hinzuquälen, um seine Zeit mit Schwachsinn zu vergeuden, der keinen Menschen interessiert. Zeit ist kostbar. Das hat mir dieses Wochenende gezeigt. Ich beschließe, fortan etwas bewusster zu leben und mir die Laune nicht mehr von Energiesaugern abzapfen zu lassen.
In Wien angekommen, miete ich ein Auto und bringe zuerst meine Schwester in den dritten Bezirk. Wir umarmen uns lange und wiederholen noch einmal Treffpunkt und Zeit für morgen. Ich sage ihr, dass ich sie lieb habe. Sie umarmt mich fest und küsst mich auf die Wange.
Danach springe ich ins Auto und fahre heim, wo meine Frau mich bereits erwartet. Als ich sie in der offenen Wohnungstür stehen sehe, schwappt eine derartige Welle der Verzweiflung und Trauer über mich, dass ich in ihre Arme taumle und so lange weine, bis ich kaum noch stehen kann.
Mein armer, armer Bruder ist tot!
Den restlichen Tag liege ich auf dem Bett und gebe mich voll und ganz der Situation hin. Meine Frau ist die ganze Zeit bei mir und tröstet mich, so gut es geht. Aber ich kann die Bilder der letzten Tage einfach nicht aus meinem Kopf verbannen. Ich sehe ständig den eingemummten Körper meines Bruders vor mir und muss daran denken, dass er – mit Erde zugeschaufelt – in einem kalten Grab in Kemer liegt. Die Endgültigkeit dieser Tatsache und meine eigene Sterblichkeit ziehen mich in einen Sog aus Fassungslosigkeit und Resignation, aus dem ich mich nur mit Müh und Not befreie.
Aber das Schlimmste ist erledigt, versichert mir meine Frau. Ich nicke stumm – damit hat sie recht. Dann fällt mir der morgige Termin bei meinen Eltern ein, und mit zitternden Händen ziehe ich mir die Decke bis ans Kinn und gleite erneut in einen unruhigen Schlaf.
Dienstag, 24. Mai 2022
Nachdem ich meiner Frau mehrfach versichert habe, dass sie nicht zu meinen Eltern mitkommen muss, küsse ich sie zum Abschied und verlasse die Wohnung. Ich bin nervös und kann das Wochenende gefühlstechnisch natürlich nicht abschütteln. Die ganze Sache lastet so sehr auf mir, dass ich mich fühle, als hätte mir jemand einen Sack Zement auf die Schultern geladen. Ich steige in mein Auto, atme einige Male tief durch und beschließe, die Sache kurz und bündig zu halten und hinter mich zu bringen.
Nachdem ich beim Hannovermarkt geparkt habe, gehe ich in Richtung Brigittakirche und sehe von Weitem schon meine zwei Geschwister vor dem Haus warten. Ich fühle, wie sich erneut eine eisige Hand um mein Herz legt und langsam zudrückt, versuche aber, mir nichts anmerken zu lassen. Ich begrüße meine Schwester mit einem Kuss und einer Umarmung. Als ich mich danach meinem älteren Bruder zuwende, grinst mich dieser doch tatsächlich an und begrüßt mich mit den Worten: „Na, du Totengräber.“
Ich weiche entsetzt zurück und kann nicht glauben, dass er das tatsächlich zu mir gesagt hat. Meine Hände ballen sich zu granitharten Fäusten, und ich denke ernsthaft darüber nach, sie ihm so lange in sein dummes, empathieloses Gesicht zu dreschen, bis er sich nicht mehr bewegt. Ein eisiger Schauer durchfährt meinen Körper, als ich merke, dass ich in diesem Moment tatsächlich dazu fähig wäre, ihn umzubringen. Stattdessen mache ich einen Schritt auf ihn zu und frage ihn mit der verachtungswürdigsten Stimme, zu der ich mich aufraffen kann, ob er eigentlich keinen einzigen Funken Anstand in seinem jämmerlichen Körper habe.
Mit knallrotem Gesicht versucht er, sich aus der Affäre zu ziehen. Er hätte nur die Stimmung etwas aufheitern wollen, und er hätte das ja nicht böse gemeint. Ich lasse ihn einfach stehen, mache kehrt und gehe zum Haus meiner Eltern. Ich weiß jetzt schon, dass ich ihm diesen kolossalen Ausrutscher niemals verzeihen werde, möchte mich aber auf die aktuelle Aufgabe konzentrieren. Ich drücke so lange den Knopf der Gegensprechanlage, bis die Türautomatik laut zu surren beginnt und wir eintreten können.
Unsere Eltern sind einigermaßen überrascht, uns alle gleichzeitig zu sehen. Das passiert eigentlich sehr selten. Sie begrüßen uns und bitten uns, ins Wohnzimmer zu kommen. Ich merke, wie mein Herz sinkt, also versuche ich, die Sache schnell zu erledigen. Ich räuspere mich gefühlt zwanzig Mal, und als alle Augen auf mich gerichtet sind, beginne ich langsam herumzudrucksen und rede so lange um den heißen Brei herum, bis mich mein Vater fragt, was zum Teufel ich da eigentlich sage.
Meine Augen füllen sich schon wieder mit Tränen, und flüsternd sage ich ihnen endlich, dass ihr Sohn gestorben ist. Mein Vater beugt sich ungläubig vor und wiederholt, was ich gesagt habe. Ich nicke. Er fragt mich ein weiteres Mal. Ich nicke erneut. Mit einer wischenden Handgeste fegt er das Gesagte aus dem Raum und wünscht unserem Bruder, dass er in Frieden ruhen möge. Danach schnappt er sich die Fernbedienung und schaltet den Fernseher an, um sich türkische Nachrichten anzusehen.
Fassungslos sehe ich ihn an, dann meine Mutter, dann wieder ihn. Das passiert jetzt gerade nicht wirklich, oder?
Meine Mutter hat einen verwunderten Gesichtsausdruck und fragt meine Geschwister, ob das, was ich sage, tatsächlich stimmt. Beide nicken. Ihr Unvermögen, über diese Tatsache zu weinen, erschreckt mich tausendmal mehr als das herzlose Verhalten meines Vaters. Sie stellt unzählige Fragen – teils vollkommen sinnlose und irrelevante – und als Reaktion schüttelt sie einfach nur den Kopf, ehe sie ihn wendet und sich plötzlich auf die Nachrichten zu konzentrieren scheint.
Ich stehe auf und verlasse das Wohnzimmer. Meine Geschwister kommen mir in die Küche nach und fragen mich, was das gerade gewesen ist. Ich bin unfähig zu sprechen und wische mir mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Ich kann und will nicht mehr reden. Ich lasse meinen älteren Bruder links liegen und verabschiede mich von meiner Schwester. Ohne meinen Eltern etwas zu sagen, ziehe ich mich an und verlasse ihre Wohnung.
Im Auto sitze ich dann so lange, bis ich wieder fahren kann, meine Hände umklammern das Lenkrad so fest, dass meine Knöchel schneeweiß hervortreten.
In was für eine gottverdammt beschissene Familie wurde ich da eigentlich hineingeboren?
Kopfschüttelnd und über alle Maßen enttäuscht, verletzt und schockiert trete ich die Fahrt nach Hause an und verfasse in meinem Kopf bereits die E-Mail, die ich meiner Teamleiterin morgen früh schicken werde. Dass ich die restliche Woche nicht arbeiten werde, steht vollkommen außer Zweifel. Ich muss diesen ganzen Mist irgendwie verarbeiten. Und wenn sie mich rausschmeißen, dann ist es eben so.
Ich starte den Wagen und reihe mich langsam in den Verkehr ein. Durch das offene Fenster weht mir warme Luft ins Gesicht, und ich schalte das Radio ein, um nicht mit meinen düsteren Gedanken allein zu sein.
Ja, Krankenstand klingt nach einer großartigen Idee. Scheiß auf die Bude. Scheiß auf diesen beschissenen Job. Scheiß auf Geld. Scheiß auf Familie. Scheiß auf Verpflichtungen. Scheiß auf Versprechen. Scheiß auf Logik. Scheiß auf die Zukunft. Scheiß auf die Gesundheit. Scheiß auf Polizisten. Scheiß aufs Leben. Scheiß auf Sterben.
Scheiß auf alle und alles.
21. Juni 2022
Winkend stehe ich an der Eingangstür und verabschiede meine Mädels, die sich ins Büro und die Schule aufmachen. Ich schließe die Tür, nachdem sie aus meinem Blickwinkel verschwunden sind, und mache mir in der Küche ein schnelles, kleines Frühstück.
Das mit dem Essen hat die letzten Wochen irgendwie nicht so toll funktioniert – der Tod meines Bruders hatte mich eisern im Griff, und an so etwas Banales wie Nahrungsmittelaufnahme konnte und wollte ich im letzten Monat nicht denken. Ich bin weit davon entfernt, die Sache verarbeitet zu haben. Meilenweit sogar. Ich denke jeden Tag an das Wochenende in Kemer und an meinen Bruder und an sein Leben und meine Beziehung zu ihm. Und natürlich an meine Eltern. Die eiskalte Art meines Vaters, den Tod seines Kindes zu quittieren, hat einen ziemlich großen Keil zwischen uns getrieben, und ich kann mich nicht so richtig aufraffen, meine Eltern zu besuchen. Ich verbringe viel Zeit in meinem Kopf – und hier dann auch sehr viel Zeit in meiner Kindheit. Schon interessant, wie viele Dinge einem so einfallen, wenn man sich nur mal die Mühe macht, etwas tiefer zu graben.
Ich habe es mir mittlerweile auf dem Balkon bequem gemacht. Eine dicke Rocky-Patel-Zigarre liegt vor mir auf dem Tisch, bereits ausgepackt und geschnitten. Das Wetter ist angenehm warm, und die Sonne lässt mich noch einigermaßen in Ruhe. Ich schließe schnell die Balkontür, ehe ich mir meine Zigarre anmache und dann eine Zeitlang blauen Rauch in der Gegend herumpuste.
Mir fällt ein, dass mein Smartphone die letzte Zeit schon rummotzt, dass der Speicherplatz eng werde. Wie das bei diesen modernen Smartphones überhaupt möglich ist, weiß der Teufel, aber ich schnappe mir das Teil und beschließe, Dateien auszumisten. Sammelt sich im Laufe der Jahre ja doch einiges an digitalem Müll an, den man nicht unbedingt auf dem Handy haben muss.
Die nächste halbe Stunde verbringe ich damit, diverse Dateien zu sichten, zu überprüfen und zu löschen, wenn nötig. Kopfschüttelnd markiere ich Unmengen an PDF-Dateien, die ich irgendwann heruntergeladen habe, um sie daraufhin mit einem Klick ins Nirvana zu befördern. Tataa – wieder 400 MB frei bekommen!
Als ich in einen Ordner mit Sounddateien klicke, werden mir zig Files angezeigt, die ich probehalber anklicke, um zu überprüfen, worum es sich dabei handelt. Nachdem ich zwei gecheckt habe, klicke ich zufällig auf eine dritte Datei – und plötzlich höre ich die Stimme meines verstorbenen Bruders und erstarre.
Zwei Sekunden später unterbreche ich die Wiedergabe, stehe nervös auf und überlege, wo und wann ich diese Nachricht erhalten habe. Ich checke den Dateinamen am Display meines Handys und stelle fest, dass er mir diese Nachricht am 24. Februar per WhatsApp geschickt hat. Warum ich sie mir nicht angehört habe, weiß ich nicht. Vermutlich war ich wieder wegen irgendeinem Schwachsinn im Stress und habe mir nicht die Zeit genommen, auf seine Nachrichten zu reagieren.
Ich lege die Zigarre, die ich immer noch in meiner rechten Hand halte, in den Aschenbecher und bemerke dabei, dass meine Hand zittert.
Will ich das hören, was er mir zu sagen hatte?
Ich habe den letzten Monat verdammt viel Zeit benötigt, um wieder halbwegs funktionstüchtig zu sein, um mich den alltäglichen Dingen widmen zu können – und ich habe Angst, wieder von vorne zu beginnen, weil mich diese Nachricht aus dem Gleichgewicht bringen könnte.
Langsam gehe ich auf dem Balkon auf und ab, schnappe mir meine Zigarre, paffe eine Zeitlang, und nicke schließlich zur Bestätigung.
Natürlich höre ich mir das an! Egal wie schmerzhaft es auch sein mag!
Ich setze mich erneut auf die Couch, hebe mein Handy hoch und drücke auf Wiedergabe.
Als die Nachricht zu Ende ist, sitze ich noch eine Weile regungslos da, während ein scheinbar unendlicher Strom von Tränen mein Gesicht herabrinnt. Ich hatte mir so viele Vorwürfe gemacht, weil ich ihm nie gesagt hatte, wie viel er mir bedeutet und dass ich ihn lieb habe – und dann sagt er wie auf Bestellung genau das in der letzten Sprachnachricht, die ich je von ihm erhalten habe.
Zitternd paffe ich an meiner Zigarre und sehe dabei in den blauen Himmel. Ich weiß, dass es verdammt schwierig sein wird, wieder einen Punkt zu erreichen, an dem ich an meinen Bruder denken kann, ohne emotional zu werden. Ich verspreche mir in genau diesem Moment, niemals zuzulassen, dass seine Erinnerung in meinem Kopf verblasst und er irgendwann nur noch eine Randnotiz in meinem Leben ist.
Ich verspreche ihm, dass ich ihn nie vergessen werde – und höre mir daraufhin seine Nachricht noch einige Male an, bis ich es nicht mehr ertrage.
Unzählige Bilder von Kemer prasseln auf mich ein, und ich schließe meine Augen und schüttle meinen Kopf, als könnte ich sie auf diese Weise abschütteln. In der Ecke der Couch hat die Sonne einen Fleck erobert, und ich drücke meine Zigarre in den Aschenbecher und lege mich mit dem Kopf direkt in die Sonne. Ihre Strahlen sind heiß und innig und trösten mich auf der Stelle.
Eine Zeitlang liege ich da und lasse mich vom Sonnenlicht heilen. Als ich beginne zu schwitzen, flüchte ich keuchend von der Couch und verziehe mich in die kühle Wohnung.
Das Leben geht weiter. Man kann sich ja nicht hinlegen und aufgeben. Während ich in der Küche den Abwasch erledige, beschließe ich, zukünftig Sprachnachrichten für meinen Bruder aufzunehmen. Wer sagt denn, dass man mit verstorbenen Menschen nicht reden kann?
Ich drehe das Radio auf und lasse meine Laune von beschwingter Popmusik so weit verbessern, bis ich tatsächlich zu pfeifen beginne. Und dann denke ich an meinen lieben Bruder.
Danke, dass es dich gegeben hat, Erol.
Danke, Bruder.