Bruder

Es ist Sonntag und ich sitze mit meinem Bruder in der 5’er Straßenbahn in Richtung Praterstern. Draußen ist es kalt und drinnen ist es warm und die Scheiben sind beschlagen vom Atem der wenigen Passagiere, die aus den Fenstern starren und nichts zu sagen haben. Trotz meiner einigermaßen dicken Winterjacke ist mir kalt und ich drücke mich gegen meinen Bruder, dem die Kälte wie immer nichts auszumachen scheint. Wir ticken einfach unterschiedlich, er und ich. Eine mechanische Stimme macht uns darauf aufmerksam, dass die nächste Station “Am Tabor” heißt und wir umsteigen können, wenn wir wollen. Wir wollen nicht, unser Ziel liegt drei Stationen weiter. Wie so oft an einem Sonntag hat uns unser Vater aufgetragen, zum Bahnhof am Praterstern zu fahren, um ihm von dort eine türkische Tageszeitung zu besorgen und wenn wir schon mal da sind, halt auch zwei Packungen Memphis Zigaretten. Diese pflegt er dann, nachdem er die Zeitung “Tercüman” vor sich auf dem Teppichboden ausbreitet, im Dauertakt zu rauchen, bis die Packung leer ist und seine Finger gelb-orange leuchten. Zeitung ohne Zigaretten geht gar nicht. Zigaretten ohne Zeitung dafür schon. Wir schnappen uns also den hundert Schilling Schein, den er uns hinhält und machen uns auf den Weg. Immerhin schreiben wir das Jahr 1985, was zum Teufel würden wir an diesem Sonntag denn auch sonst tun?

Der Fünfer dreht am Praterstern seine Endrunde und die altersschwache Bim hält quietschend und ächzend direkt vor dem Bahnhof, ehe sie uns in die eisige Kälte entlässt. Nachdem wir mit steifen Gliedern ausgestiegen sind, beginnt mein Bruder mir euphorisch von einem Film zu erzählen, den er letzte Nacht gesehen hat, während ich schnarchend und sabbernd auf der Couch neben ihm lag – eine Hand in einer Schüssel Popcorn, die andere in der Hosentasche. Während ich so tue, als würde ich ihm zuhören, werfe ich einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Köstli Filiale am vorderen Ende des Bahnhofsgebäudes. Weißer Rauch steigt aus einem Rohr, das an der Fassade befestigt wurde, in den Himmel und der Geruch von Hot Dogs und Burgern wird kurioserweise entgegen der Windrichtung in mein Gesicht geweht. Ich atme das Aroma tief ein und seufze. “Ich besorge uns Geld, dann gehen wir uns dort so richtig den Bauch vollschlagen”, verspricht mir mein Bruder, der weiß, wie gerne ich die Fischburger von dieser kleinen Burgerkette mag. Ich nicke ihm stumm zu und wir bewegen uns weiter ins Innere des Bahnhofs, um uns vor der Trafik anzustellen.

1985 bin ich zwölf Jahre alt und mein Bruder fünfzehn. Wenngleich es auch scheint, dass drei Jahre nicht viel ausmachen, könnten wir nicht verschiedener sein. Er ist viel erwachsener, als es sein Alter vermuten lässt, hat viel mitgemacht, viel erlebt. Während wir darauf warten, dass die alte Schachtel vor uns endlich ihre Zigarillos bezahlt, werfe ich ihm von der Seite verstohlene Blicke zu und muss, wie so oft, daran denken, was er alles erdulden musste. Von meiner gesamten Familie steht er mir am nächsten – er weiß das und ich auch. Wir streiten oft, kriegen uns in die Haare, prügeln aufeinander ein – aber ohne ihn geht es nicht. Egal, was passiert, egal, wie hart wir uns zanken, wir verbringen trotzdem jede freie Sekunde miteinander. Ein wohliges Gefühl der Geborgenheit legt sich an diesem eiskalten Wintertag auf meine Brust, als mir mal wieder klar wird, wie sehr ich meinen Bruder liebe. Schade nur, dass ich ihm das nie wirklich sagen kann. Vermutlich würde er mir sowieso nur eine dafür knallen und mich eine Schwuchtel oder so nennen. Nach einer gefühlten Ewigkeit legen wir Geld für Zeitung und Zigaretten hin, übernehmen die Ware und verlassen das Bahnhofsgebäude, das, wie immer in den Wintermonaten, nach schimmeligem Putzfetzen riecht. Da und dort liegen ohnmächtige Sandler, deren krächzendes Gezeter uns ins Freie verfolgt.

“Komm”, sagt mein Bruder, als wir vor der Bim Station stehen plötzlich, “wir gehen zu Fuß.”

Mir ist kalt und ich will heim, aber ich nicke trotzdem stumm. Irgendwas in mir gibt mir zu verstehen, dass er Zeit schinden möchte. Nicht so schnell wieder daheim sein möchte, in den vier Wänden, wo die eiserne Faust unseres Vaters regiert und beim kleinsten Vergehen erbarmungslos und unangekündigt auf jeden herab donnern kann. Wir müssen nicht so schnell heim, denke ich mir stumm, mir wird beim Gehen schon warm werden. Wir stecken unsere blauen Fäuste in die Jackentaschen und stapfen durch die trockene Kälte, während die Sonne uns einen Kurzbesuch abstattet um uns für einige Minuten die Gesichter zu wärmen. Es ist unglaublich, wie weit in diesen Momenten die triste Traurigkeit des Alltags von uns rückt. Es scheint, als wären wir in diesem Moment gefangen – lachend, durch die grauen Gassen Wiens schlendernd und Geschichten erzählend – bis morgen, nächstes Jahr oder von mir aus bis in alle Ewigkeit!

Während wir durch den zweiten Bezirk spazieren, spielen wir eines unserer Lieblingsspiele: “Was mache ich?”. Die Regeln sind einfach. Man geht davon aus, dass das Schicksal, irgendeine höhere Macht, der Zufall oder vielleicht sogar die blaue Fee dafür sorgt, dass man eine Million Schilling gewinnt. Danach folgt die eigentliche Frage, was man denn nun mit der gewonnen Summe am besten anfängt. Unsere Ausführungen beginnen in der Regel mit einigermaßen in der realen Welt angesiedelten und durchaus nachvollziehbaren Methoden, Geld auszugeben. Räder, Computer, Spielsachen, coole Kleidung – das Übliche. Die interessanten Lösungen folgen aber erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn uns nichts Normales mehr einfällt. Danach gilt es nur mehr, die haarsträubendsten Ideen zu gebären, um den anderen zum Lachen zu bringen. Unser kicherndes Gegacker und Bemühen, die großartigen Ideen des anderen zu übertreffen, führen dazu, dass wir nicht darauf achten, wo wir eigentlich hingehen. Gerade als ich im Begriff bin, zu einem Geniestreich auszuholen, bleibt mein Bruder abrupt stehen, starrt grimmig auf die anderen Straßenseite und hält mir seinen ausgestrecktem Arm vor die Brust.

“Was ist?”, flüstere ich aus irgendeinem Grund besorgter, als ich mir erklären kann.

Er macht wortlos kehrt, packt mich dabei am Kragen meiner Jacke und deutet mir stumm ihm zu folgen. Mehr verblüfft als sonstwas, stolpere ich ihm hinterher, nicht ohne ihn dabei flüsternd zu fragen, was er gesehen hat. Als ich das Geräusch von Füßen hinter uns vernehme, die uns zu folgen scheinen, raunt mir mein Bruder ein kurzes “Lauf!” zu, lässt mich los und beginnt zu rennen. Ich habe keine Ahnung, wer oder was uns verfolgt, drehe mich trotzdem um und gebe Fersengeld, als wäre der Leibhaftige hinter uns her. Leider komme ich nicht sehr weit. Ich stolpere über meine Füße, hebe ab und fliege eine gefühlte Ewigkeit durch die frostige Vormittagsluft Wiens, ehe ich krachend einen Fritzelack vom Feinsten hinlege, der mir den Atem raubt und mich kurz Sterne sehen lässt. Ich drehe mich erschrocken um und sehe einige Typen auf mich zustürmen. Während mir klar wird, dass ich keinen von ihnen kenne, bremsen sie sich bei mir ein und beginnen sofort wortlos auf mich einzutreten. Kopf, Arme, Rücken, Beine – die Tritte sind gezielt und effizient. Jeder Kontakt verursacht einen explosionsartigen, stechenden Schmerz an meinem Körper, ich bin jedoch so perplex, dass ich nicht mal einen Mucks von mir gebe. Ich kauere mich zusammen und halte meine Arme vor mein Gesicht und von einer Sekunde auf die nächste hören die Tritte auf. Es klatscht und es wird geflucht. Körper wirbeln um mich herum, nach links und rechts, ein Gesicht donnert neben mir in einen Hydranten, eine Blutfontäne spritzt aus einem Cut direkt über dem Nasenbein. Ich weiche keuchend zurück und versuche die Situation zu erfassen. Als ich feststelle, dass mein Bruder im Alleingang drei Typen plattgemacht hat, hat er mich bereits hochgezogen und schleift mich bereits, einen Arm um meine Hüfte, einige Gassen weiter. Wir schlagen einige Haken und kürzen über zwei Durchhäuser ab. Erst als wir uns sicher sind, dass uns niemand folgt, bleiben wir stehen und ich setze mich stöhnend auf eine eiskalte Parkbank. Mir fällt auf, dass mein Bruder aus einem Cut an der Stirn und der Nase blutet. Während ich mir meine pochende Seite halte, überprüft er meinen Kopf und mein Gesicht auf Verletzungen. Schließlich nickt er seufzend und setzt sich neben mich.

“Alles okay?”

Ich nicke stumm. Meine Rippen fühlen sich an, als hätten grad drei Kerle auf mich eingetreten.

“Wer war das?”, frage ich leise.

Ich sehe seinem gequälten Gesicht an, dass er weiß, dass er der Grund dafür war, dass die Typen mich verdroschen haben und dass er sich dafür hasst. Das reicht mir, immerhin hat er mir ja auch den Arsch gerettet. Ohne auf eine Antwort zu warten, stehe ich auf und schlage vor, dass wir weitergehen, ehe die Jungs erneut auftauchen, diesmal mit Verstärkung. Ich werde nie erfahren, was mein Bruder für Zoff mit diesen Figuren hatte. Weder er noch ich sprechen jemals wieder über diesen Vorfall. Wir sehen einfach zu, dass wir nach Hause kommen.

Als wir daheim die Eingangstüre hinter uns schließen, empfängt uns dampfende und willkommene Wärme, verursacht durch das Essen, das unsere Mutter in der Küche zubereitet. Sie nickt uns zu, wir umarmen sie und ich bringe die zerknitterte Zeitung und verbeulte Zigarettenpackungen meinem Vater, der die Übergabe mit einem einigermaßen unfreundlichen Blick quittiert, aber nichts sagt. Zurück in der Küche setze ich mich neben meinen Bruder, als unsere Mutter einen Teller mit frischen und dampfenden Stücken Spinat- und Schafskäse Börek vor uns hinstellt. Lachend greifen wir zu und spielen unser “Was mache ich?” Spiel weiter. Wir produzieren die Großartigsten Ideen, die wir aus der Luft herbeizuzaubern scheinen und beglückwünschen uns gegenseitig dafür. Wir essen das wunderbare, ofenwarme Börek unserer Mutter und in diesem Moment ist alles Furchtbare, was in unseren jungen Leben jemals passiert ist so weit entfernt, wie Pluto oder Mars. Wir leben im Hier und Jetzt und ich bin glücklich und satt und es ist warm. Ein Blick auf das fröhliche Gesicht meines Bruders reicht, um erneut das wohlige Gefühl von Familie in mir heraufzubeschwören. Ich schwöre mir, für immer und ewig für ihn da zu sein, komme was wolle.

Und dann leben wir und werden älter. Und werden Erwachsene. Und treffen Entscheidungen. Und heiraten. Und Kinder tauchen in unseren Leben auf. Und der Alltag bestimmt, was Sache ist. Und die Resultate unserer Entscheidungen schubsen unsere Leben und Lebensmittelpunkte in entgegengesetzte Richtungen und die Sonne oder das Universum übernehmen die Kontrolle und treiben uns so weit auseinander, dass ich es in dieser neuen Realität nur mit äußerster Kraftanstrengung schaffe, den Kontakt zu meinem Bruder aufrecht zu halten. Manchmal hören wir uns wochenlang nicht, einmal reden wir zwei Jahre nicht miteinander.

Viel passiert. Viel Schlimmes passiert.

Aber ich gebe ihn nicht auf. Niemals. Ich denke an diesen einen eiskalten Tag am Praterstern und schwöre mir, nie zu vergessen, dass ich einen Bruder hatte, zu dem ich aufsah und den ich über alles liebte.

Und das ist ein Kompromiss, mit dem ich leben kann.

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