Tokio

“Das kann nicht dein Ernst sein!”.

Ihre Stimme fegt durch zwei Räume und erreicht mich in der Küche. Ich kümmere mich um den Abwasch und zucke kurz zusammen, in Gedanken war ich Welten entfernt. Keine Ahnung, was ihr jetzt schon wieder nicht passt, ich verspüre auch nicht die geringste Lust nachzufragen, sie wird es mich zweifelsohne gleich wissen lassen. Ich bleibe stumm und bearbeite das Glas in meiner Hand weiter mit Spülseife und einem alten Schwamm.

“Ich habe dich um eine Sache gebeten”, höre ich sie plötzlich ganz nah hinter mir. Ich hasse mich dafür, aber ich zucke erneut zusammen und drehe mich erschrocken um. Keine Ahnung, wie sie das macht, aber sie verfügt über Anschleich-Fähigkeiten, die jedem Sioux die Schamesröte ins Gesicht treiben würde. Langsam trockne ich meine Hände an einem Geschirrtuch und wappne mich dabei innerlich für den kommenden Vortrag.

“Was ist denn?”, frage ich leicht genervt.

“Was los ist?”, antwortet sie schnaufend, hebt ihre linke Hand und hält mir eine leere Cola-Plastikflasche vor die Nase. Ich seufze und greife danach, aber sie zieht sie blitzschnell zurück. Ich warte auf ihren Vortrag.

“Weißt du”, sagt sie nach einer kurzen Pause, in der sie mich beinahe hasserfüllt ansieht. “ich arbeite genauso viel wie du. Ich schufte den ganzen Tag, dann komm’ ich heim und muss mich auch noch um die Wohnung kümmern. Ich muss staubsaugen, staubwischen, die Fenster, das Klo und das Bad putzen und du kommst irgendwann vom Büro und pflanzt deinen Hintern auf die Couch, ohne einen einzigen Finger zu rühren.”

Ich lehne mich gegen den Küchenschrank und verkneife mir den Hinweis, dass wir doch grad in der Küche stehen. Wo ich den Abwasch erledige. Resigniert nehme ich zur Kenntnis, dass das hier wird wohl noch eine Weile dauern wird.

Sie lässt sich darüber aus, dass ich sie komplett alleine lasse mit dem Haushalt und mit allem anderen auch. Ich beteilige mich nicht an ihrem Leben, sagt sie, zeige kein Interesse. Sie müsse alles planen, weil von mir nie etwas kommt. Mich würden nur meine Bücher und Autogrammkarten interessieren, wirft sie mir vor. Immer lauter werdend fragt sie mich, welcher normale Mensch denn bitteschön heutzutage noch Autogrammkarten sammelt.

Erneut seufzend schließe ich meine Augen und beginne mit Zeige- und Mittelfinger meiner rechten Hand einen Punkt zwischen meinen Augenbrauen zu massieren. Ich mag mir diese Scheiße wirklich nicht zum tausendsten mal anhören. Sie redet und schimpft und argumentiert. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte ihn jemand in einen Schraubstock gespannt und würde ihn mit jeder Sekunde fester ziehen.

Das ganze dauert nur ein paar Minuten, aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Als sie sich ausgekotzt hat, wirft sie die leere Colaflasche über meine Schulter hinweg in die Spüle, dreht sich wütend um und verlässt schnaufend die Küche. Ich entsorge sie umgehend im Mülleimer und schüttle dabei den Kopf. Gestern habe ich sie in meinem Arbeitszimmer ausgetrunken und anstatt sie sofort wegzuschmeißen, wie ihre Lordschaft das von mir verlangt, habe ich sie einfach stehen lassen, weil ich keine Lust hatte sofort zu springen, wenn sie in die Hände klatscht. Und dann habe ich einfach darauf vergessen. Grund genug für sie, mir wieder einen ihrer Vorträge zu halten.

“Du bist ein Idiot”, schimpfe ich mich selber, weil ich merke, wie sehr mir ihre Standpauken auf die Eier gehen, diese aber in nahezu allen Fällen selbst verursache. Schließlich atme ich durch und erledige den Abwasch.

Danach setze ich mich an den Küchentisch und surfe ein wenig im Internet herum. Sie hat es sich auf der Couch gemütlich gemacht und wartet, dass ich mich zu ihr setze. Nach ihrer Litanei verspüre ich jedoch nicht den geringsten Wunsch, mich in ihre Nähe zu begeben, aus Angst, eine weitere, wüste Beschimpfungsorgie heraufzubeschwören. Nein, ich bleibe hier und warte, bis sie eingeschlafen ist. Das sollte wohl nicht länger dauern als 15 oder 20 Minuten.

Ich klicke mich durch diverse Seiten, bis ich plötzlich zufällig auf einer Seite für Hotelreservierungen lande. Auf der Startseite wird Werbung für Tokio gemacht. “Die 30 besten Hotels – von uns für Sie!”, steht da groß und fett. Tokio. Japan. Ich lehne mich zurück und scrolle langsam nach unten, während ich aufmerksam die unterschiedlichen Fotos betrachte.

Tokio. Japan.

Ich klicke auf eines der Fotos und lande auf einer Reservierungsseite für Hotels in Tokio. Oben muss der Reisezeitraum eingetragen werden, danach können bestimmte Filter wie Sterne Kategorie und Preis pro Nacht angegeben werden. Danach klickt man auf “Suchen” und erhält eine Trefferliste. Aufmerksam scrolle ich mich durch die unterschiedlichen Auswahlmöglichkeiten, während kaum spürbar eine Idee in meinem Kopf zu reifen beginnt. Ich gebe als Reisezeitraum die nächsten drei Wochen an, entscheide mich für eine Vier Sterne Kategorie und gebe an, ein Nichtraucher-Einzelzimmer zu suchen. Nachdem ich auf “Suchen” klicke, stehe ich leise auf und schleiche auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Sie liegt, wie vermutet, auf der Couch und schnarcht leise mit offenem Mund, während im Fernseher irgendein alter Derrick läuft. Ich mache kehrt und schließe die Wohnzimmertür hinter mir. Mein nächster Weg führt mich ins Arbeitszimmer. Dort fingere ich meinen Reisepass aus meinem Dokumente Ordner und suche nervös das Datum, an dem er abläuft. Wir reisen nicht oft, daher bin ich unsicher, ob er noch gültig ist. Jedoch kein Grund zur Sorge, ich muss ihn erst nächstes Jahr erneuern. Der Pass wandert in meine Gesäßtasche.

Wieder in der Küche sehe ich mir die unterschiedlichen Hotels an, welche die Seite ausgespuckt hat. Entsetzt nehme ich die horrenden Preise zur Kenntnis und beschließe, meine Ansprüche etwas herunterzuschrauben. Mir fällt ein, dass es in Japan diese kleinen Zimmer gibt, nicht größer als ein Bett, die mehr einer Wabe gleichen als einem Raum. Ich passe meine Suchkriterien an und lasse mir erneut eine Auswahl anzeigen. Die Preise für diese kleinen Zimmer sind immer noch eine Frechheit, aber in Summe muss ich nur ein Drittel vom ursprünglichen Preis zahlen.

Tokio. Japan.

Nachdem ich, ohne lang zu überlegen, ein Hotel für die nächsten drei Wochen gebucht habe, klicke ich mich zur Website der ersten Fluglinie, die mir einfällt und buche einen erstaunlich günstigen Flug nach Tokio für morgen früh. Das alles passiert, ohne dass ich irgendwie viel Einfluss darauf hätte. Es scheint, als hätte eine fremde Kraft Besitz von meinem Körper ergriffen und würde alles Notwendige tun, damit ich dem giftigen Umfeld, in dem ich mich zur Zeit befinde, entkommen kann. Und ich lasse es einfach geschehen.

Während ich leise ein paar Kleidungsstücke zusammen suche und sie danach in eine Sporttasche stopfe, versuche ich mir in Erinnerung zu rufen, was ich alles über Japan im Allgemeinen und Tokio im Speziellen weiß. Ich muss schnell feststellen, dass dies nicht viel ist: Ramen-Suppen, Sushi, kunterbuntes Straßentreiben, Tempel und Erdbeben, das ist alles.

Als ich in meine Turnschuhe schlüpfe, ist es bereits ein Uhr nachts. Die ersten Zweifel, ob ich das Richtige tue, nagen bereits an mir, aber ich lasse mich davon nicht abhalten, die Wohnung zu verlassen. Der Stein rollt bereits. Nach einem letzten Blick auf meine schlafende Frau verschwinde ich, leise wie ein Geist, aus der Wohnung und trete meine Spontanreise an. Als ich das Wohnhaus verlasse, überkommt mich eine noch nie dagewesene Euphorie. Ich fliege nach Japan!

Ich mache mir weder Gedanken um meinen Job, noch um meine Beziehung. Was alle sagen werden, ist mir genauso egal wie, was ich denn überhaupt in Tokio machen werde, wenn ich mal ankomme. Meine Frau wird toben und versuchen mich anzurufen, aber ich habe mein Smartphone ausgeschalten und zuhause in eine Schublade gelegt. In Tokio bekomme ich die Dinger bestimmt um ein Butterbrot und ein Ei. Je weiter ich mich von meiner Wohnung entferne, desto mehr kann ich aufatmen. Eine zentnerschwere Last scheint von meinen Schulter genommen worden zu sein und voller Energie steuere ich meine Schritte zum nächstbesten Taxistand. Dort angekommen, setze ich mich in das erste Taxi und lasse mich zum Flughafen bringen. Erneut zwickt mich der eine oder andere Gewissensbiss, aber scheiß drauf. Mir scheint, als würde alles, was in den letzten Jahren in meiner Beziehung nicht rund gelaufen ist, hier und jetzt mit meiner Flucht ein Ende finden. Und eine Flucht, so gestehe ich mir ein, ist es auf jeden Fall. Dabei ist es gar nicht so, dass ich meine Frau nicht liebe. Immerhin war sie nicht immer so. Einst waren wir ein inniges Paar und es gab zwischen uns nichts als Harmonie. Bis der Alltag alles zerfickt hat. Ich bin mir durchaus der Tatsache bewusst, dass ich zum Großteil daran schuld bin, dass unsere Beziehung nicht mehr so rund läuft, aber ich bin im Grunde noch haargenau der gleiche Typ wie an dem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben. Sie hat sich verändert. Rede ich mir zumindest ein.

Am Flughafen angekommen steige ich aus, bezahle den Taxifahrer und gehe in die Wartehalle. Es ist kurz nach zwei Uhr. Mein Flug geht in knapp sechs Stunden, bis dahin werde ich mir die Zeit auf einer Bank vertreiben. Ich besorge mir eine Flasche Mineralwasser und mache es mir dann mit meiner Tasche in einem Wartebereich gemütlich. Gegenüber von mir liegt ein Japaner und schläft. Ich beobachte ihn, während ich meine Flasche fest umklammere. Plötzlich öffnet er ein Auge und sieht mich an. Dann ist es auch schon wieder zu und er schläft weiter. Es scheint, als würde von mir keine Gefahr für ihn ausgehen.

Während ich eindöse, denke ich noch einmal an meine Frau und ihre Worte vor einigen Tagen:

“Klar war ich früher verliebter in dich. Jetzt wohnen wir ja zusammen und ich hab quasi immer Zugriff auf dich. Das ist ja nicht mehr dasselbe.”

Dass sie mit dieser Aussage mein Herz in tausend Splitter gesprengt hat, ist ihr nicht bewusst. Immerhin bin ich niemand, der nach so einem Spruch kreischend in die Knie geht und eine Szene macht. Ich blute nach innen, das habe ich schon immer.

Während ich an die unzähligen Streitgespräche denke, die wir in den letzten Monaten und Jahren geführt haben, überkommt mich eine Müdigkeit, der ich wenig entgegenzusetzen habe. Ich denke an meine Frau, die ich liebe und ich spüre wie froh ich bin, dass ich von ihr wegkomme.

Tokio. Japan. Wow!

Ich schließe meine Augen und lasse mich fallen.

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