Juwelen

Dre zieht sich die Pläne des Juwelierladens auf den Desktop seines Macbooks und öffnet die Skizze des hinteren Raumes, der den Safe beherbergt. Eigentlich ist sein Name Andreas, aber er ist riesiger N.W.A. Fan und Dre klingt einfach cooler, auch wenn die meisten Leute, bei denen er sich mit diesem Namen vorstellt, belustigt die Augen verdrehen.

Das PDF des Safe-Raumes poppt auf dem Bildschirm auf und Dre zoomt hinein und hinaus und notiert sich detalierte Infos über Länge, Breite und Höhe auf einem gelben Notizblock mit dünnen, blauen Linien. An der rechten oberen Ecke des Blocks befindet sich ein transparentes Wasserzeichen des Herstellers DIFRANCO – eine altes italienisches Papierschöpfwerk, das bereits Kaiser Franz Joseph mit qualitativ hochwertigem Briefpapier versorgt hat und das unerwarteterweise über eine überaus kuriose Eigenschaft verfügt: man kann darauf verfassten Text nicht kopieren.

Dre kramt seinen Texas Instruments Rechner mit der Modelbezeichnung TI-84 Plus aus der Lade und klopft alle möglichen Werte und Formeln ein. Der Kauf dieses Taschenrechners war Gold wert, ist er doch imstande, alle möglichen Funktionen, Gleichungen und Tabellen zu berechnen und anschaulich darzustellen. Eine immense Zeitersparnis, wenn es darum geht, Stärke, Dichte und Volumen von Stahlbeton zu berechnen und daraus eine Liste erforderlicher Gegenstände und Werkzeuge abzuleiten um ihn zu knacken. Es macht Piep und Trrrtrrr und Plop und der Rechner spuckt einige Ergebnisse aus, die Dre mit einem erfreuten, gurrenden Geräusch quittiert.

Im Grunde ist es ein ganz gewöhnlicher Job. Ein Juwelierladen am Graben. Ziemlich knackiger Safe, aber wie die meisten Juwelierläden hat auch dieser den Fehler begangen zu denken, dass es reicht, den Safe mit dem wertvollsten Inhalt im hintersten Raum – am weitesten entfernt von allen Ein- bzw. Ausgängen – zu platzieren. Alles, was einem dann nur mehr zu tun bleibt ist, herauszufinden, wie man durch die Rückwand kommt und den Safe gleichzeitig von der Rückseite öffnet. Klingt alles ganz furchtbar schwierig und kompliziert, ist es aber auch. Es sei denn, man ist ein wenig autistisch veranlagt und sieht Dinge, die normale Menschen nicht sehen. So wie Dre.

Dre fingert schon geraume Zeit an dieser Sache. Er hat kein Detail dem Zufall hinterlassen. Er weiß was, wann von wem geliefert wird, was es wert ist, wie er es äußerst gewinnbringend an den Mann bringen kann und, am wichtigsten, wie er sich das Ganze holen kann. Er hat Lieferanten, Informanten, Konkurrenten, Polizisten, Nachbarn, Richter, Kindermädchen, Supermarktangestellte und Hausmeister für alle notwendigen Informationen und Notfallszenarien geschmiert. Er hat hierfür über zwei, drei oder mehrere Ecken vollkommen fremde Handlanger hinzugezogen, was es vollkommen unmöglich macht, ihn als Drahtzieher hinter dem Coup ausfindig zu machen. Seine Notfalltasche – Reiseunterlagen, Bargeld, und eine Garnitur Wäsche enthaltend – liegt abmarschbereit unter seinem Bett. Dre rattert einige letzte Zahlen durch seinen Taschenrechner, nickt erfreut und beschließt, es für heute gut sein zu lassen.

Der Regen vor seinem offenen Fenster beruhigt ihn ungemein. Das Geräusch erinnert ihn an seine Kindheit in Portugal und an seine Großmutter. Sie war Bildhauerin und erkannte sehr früh, dass er ein sehr besonderes Kind war, auch wenn damals Begriffe wie Autismus noch niemandem besonders geläufig waren.

Dre nippt an seinem heissen Kakao und blickt in die nasse Welt hinaus. Morgen ist es soweit. Er hat ein halbes Jahr an diesem Plan herumgefeilt, bis er sicher war, dass alles genau so funktionieren würde, wie er sich das ausgedacht hat. Manchmal war es aber auch wirklich zu einfach. Nichtsdestotrotz war er niemand, der unnötige Risiken einging. Lieber mehrere unnötige Kilometer in der Planung, als unzählige unnötige Kilometer im Gefängnishof.

Dre verstaut alle Unterlagen in seinem eigenen Safe, wäscht seine Tasse ab, rubbelt sie mit einem grünen Geschirrtuch trocken und stellt sie zurück in den Schrank. Er putzt sich die Zähne, schmiert sich das Gesicht mit einer feuchtigkeitsspendenen Creme von Vichy ein, drückt sich einen Pickel auf der Nase aus, zwinkert sich im Spiegel zu und geht schließlich zu Bett. Sein Bose Wlan Lautsprecher spielt ihm zum Einschlafen eine eigens angelegte Schlaf-Playlist vor und Dre geht in Gedanken ein letztes Mal den ganzen Plan durch. Das war mit Abstand seine beste Arbeit bisher. Stolz, das alles alleine auf die Reihe bekommen zu haben, grinst er von einem Ohr bis zum anderen und freut sich auf sein Leben nach dem Coup. Schließlich schlummert er glücklich ein.

Am nächsten Tag fährt Dre zum Juwelierladen, raubt ihn aus und wird dabei erschossen.

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