Rot

Meine ausgestreckte Hand hält die Kreditkarte fest und obwohl der unmögliche Mitarbeiter hinter dem Tresen mit aller Macht daran zieht, bin ich nicht bereit, sie loszulassen. Er schnauft nervös, lässt endlich los, verschränkt die Arme genervt vor der Brust, legt den Kopf schief und sieht mich böse an. Meine Hand ist immer noch ausgestreckt und die Knöchel an meinen Fingern treten weiß hervor, weil ich die Karte so fest halte, dass auch drei Personen sie mir nicht entreißen könnten.

Irgendwo in meinem Kopf taucht die Stimme auf und rät mir, mich zu beruhigen. Es gut sein zu lassen. Bis zehn zu zählen und durchzuschnaufen. In unzähligen Therapiesessions habe ich gelernt, dieser Stimme der Vernunft zuzuhören und mich vorbehaltlos darauf zu verlassen, dass sie mich in Situationen wie der Aktuellen daran hindert, dass meine Reflexe reinkicken und mich in die Scheiße reiten. Ich habe gelernt, sofort die Zügel abzugeben und mich in eine defensive Haltung zu begeben. Selbstschutz, reiner Selbstschutz. Die Stimme redet auf mich ein, wie auf einen kranken Gaul, aber irgendwas ist diesmal anders. Ich höre die Worte, aber sie prasseln an einer plötzlich auftauchenden Wand aus Rage, Hass und Ignoranz ab. Das Ganze hat zur Folge, dass sich mein Fokus voll und ganz auf den Kerl vor mir richtet. Mitte zwanzig, dünner Schnurrbart, tätowiert und dieses typisch gelangweilte Gesicht, das mir in letzter Zeit viel zu häufig begegnet. Nichts Nennenswertes erlebt, nichts Sinnvolles geschaffen, alles besser wissend – durch und durch eine furchtbare Person. Das wäre alles nur halb so schlimm, wenn dieser widerliche kleine Scheißer mir mein Leben die letzten zehn Minuten mit seiner elenden Art nicht unnötig schwer gemacht hätte. Immer und immer wieder die Elastizität meiner Nervenstränge auf Belastbarkeit geprüft hätte, bis diese mit dem einen oder anderen Zong! reissen und mich nun mit rotem Gesicht und mahlendem Unterkiefer dastehen lassen, wie einen Verrückten.

Was der Kerl sagt, verstehe ich nicht. Es ist mehr so, dass mein Geist wahrnimmt, dass etwas Herablassendes zu mir gesagt wird. Die Stimme in meinem Kopf schreit mich bereits an und versucht zu verhindern, was passieren wird. Die Kreditkarte in der Hand finde ich mich plötzlich über dem zusammengesackten Körper des Typen, die Hand blutbesudelt, aber immer noch die Kreditkarte haltend. Das kurze Blackout kommt mir bekannt vor, erinnert mich an frühere Episoden, kurz nach meiner Rückkehr aus Asien. Da waren Spitäler und Ärzte und Wunden, und Operationen und Nervenzusammenbrüche und Verbände und Erbrochenes und Tage in einem todesähnlichen Zustand, den ich, in eine Decke gewickelt, auf Terrassen verbrachte, bis mir die Sonne das Gesicht in ein rotes Fiasko verwandelt. All diese Erinnerungen prasseln nun auf mich ein, während ich, die kreischenden Schreie um mich herum ignoriere und zusehe, dass ich das kaufhaus verlasse.

Ich stecke im Laufen die blutige Kreditkarte in meine Hosentasche und hänge meinen zweiten Arm in den baumelnden Gurt meines Rucksacks. Ich laufe die Rolltreppen aus dem zweiten Stock hinunter und dann gleich noch einmal, bis ich im Erdgeschoss ankomme und mich plötzlich mit zwei riesigen Security Mitarbeitern konfrontiert sehe, die scheinbar schon auf mich gewartet haben. Ich hebe meine Hände beschwichtigend und sage laut und deutlich Nein! Sie halten kurz inne, gehen dann aber weiter auf mich zu. Schaulustige verstecken sich in gebührendem Sicherheitsabstand und sehen mit offenen Mündern zu, wie ich diese zwei Fleischkolosse mit bloßen Händen ineinander verknote. Ich bin mir sicher, dass das Geräusch der brechenden Knochen sie noch sehr lange in ihren Träumen verfolgen wird. Für mich hingegen ist es, als würde ich alte Freunde willkommen heißen. Der offene Bruch des einen Security Mitarbeiters wird vermutlich für einen drastischen Blutverlust sorgen. Ich hebe sein verletztes Bein und stopfe einige der herumliegenden Kleidungsstücke, die wir während unseres Kampfes in alle Windesrichtugnen verstreut haben, darunter. Das sollte die Blutung etwas verlangsamen. Ich lasse die zwei Bewußtlosen zurück und renne weiter in Richtung Notausgang. Nachdem sich das Kaufhaus auf einer belebten Einkaufsstraße befindet, gehe ich davon aus, dass die Exekutive bereits mit gezogenen Handfeuerwaffen vor den Ausgängen auf mich wartet. Der Notausgang scheint mir die einzig sinnvolle Option in Sachen Fluchtweg.

Während ich gehetzt, aber innerlich dennoch äußert gefasst und beinahe entspannt, einen langen Gang entlanglaufe, meldet sich die Stimme zurück. Was ich denn mache und dass das alles Irrsinn wäre und ich immer noch aufhören könne. Es folgt eine kurze Auseinandersetzung zwischen mir und der Stimme. Ich stelle klar, dass ich mir entweder Unterstützung oder vollkommene Stille erwarte, woraufhin die Stimme immer kleinlauter wird, ehe sie seufzend nachgibt und mir versichert, mir, so gut es geht, aus dem Schlamassel zu helfen. Wir geben uns darauf die Hand, meine innere Stimme und ich und ich laufe weiter, dem Ausgang zu.

Als ich die Tür langsam aufdrücke, ziehen mich sofort gefühlte zwanzig Arme ins Freie und unter lautem Geschrei folgt eine Rangelei, bei der meine antrainierten Söldner Fähigkeiten endgültig das Kommando übernehmen und in einem wirbelnden Chaos aus Schmerzen, äußerst effizient eingesetzter Brutalität und Kompromisslosigkeit ein Gemetzel unter den vier Polizisten anrichtet, das seinesgleichen sucht. Das Ganze ist schneller erledigt, als einer der verblüfften Männer Gelegenheit hat, seine Waffe zu zücken. Die rosa Wolke aus Gewalt legt sich schließlich und ich sehe mich um, außer Atem, geschlagen, geschunden, grün und blau, aber immerhin bei Bewußtsein. Um mich herum die übel zugerichteten Extremitäten der ohnmächtigen Polizisten, die zwar alle überleben, sich aber lange fragen werden, wie zum Teufel eine einzelne Person sie alle krankenhausreif schlagen konnte. Ich lache kurz und laufe in Richtung Garage.

Die Wahl des richtigen Fluchtfahrzeugs ist eine immens Wichtige. Immerhin ist es nahezu unmöglich, die neuen Autos kurzzuschließen. Alle mehr Computer als Mechanik. Während ich zusammengekauert zwischen den parkenden Autos dahin flitze, auf der Suche nach einem älteren Modell, stelle ich entsetzt fest, dass im Grunde keines der parkenden Wagen älter als vier oder fünf Jahre ist. Da kommt mir diese alte Knacker, der seinen Einkauf gerade in aller Ruhe im Kofferraum seines Mercedes verstaut, gerade recht. Ihm die Schlüssel abzunehmen dauert weniger lang, als einem Kleinkind den Schnuller zu stehlen. Innerhalb weniger Sekunden fahre ich mit quietschenden Reifen los und bremse mich aber sofort wieder ein, als ich vor der geschlossenen Schranke der Tiefgarage ankomme. Die Dinger sind nicht mehr ganz so einfach umzufahren und ich will so wenig Krach wie möglich machen, immerhin wartet da draußen eine unbestimmte Anzahl an weiteren Polizisten auf mich. Hinter mir nähert sich ein Auto, dessen Fahrer mir nach einer gerade lächerlich wirkenden Zeit, mittels Lichthupe zu verstehen gibt, ich möge endlich weiterfahren. Ich steige aus, gehe zu seinem Fenster, ziehe ihn aus seinem Wagen und nehme ihm seine entwertete Parkkarte ab, die er sich nonchalant zwischen die Lippen gesteckt hat.

Als ich wenige Minuten später in angemessenem Tempo, aber sehr wachsam in alle vorhanden Spiegel blickend, die Gassen des sechsten Wiener Gemeindebezirks entlang fahre, spüre ich, wie sich mein Puls langsam verringert und sich meine Atmung normalisiert. Mein Körper fährt die Adrenalin Ausschüttung zurück und alles bereitet sich auf den Normalzustand vor. Ich erreiche den Gürtel, wechsle auf die mittlere Spur und fahre, als wäre nichts gewesen, in Richtung Währing. Bei der Gentzgasse angekommen, biege ich links ab und fahre, bis ich den Aumannplatz erreiche. Dort biege ich rechts ab und fahre bis zum Türkenschanzpark hinauf. Ich parke den gestohlenen Wagen auf einem freien Platz, lasse die Schlüssel stecken, steige aus und gehe einfach die Gasse entlang, bis ich den Türkenschanzpark erreiche. Dort passiere ich den Kinderspielplatz mit dem roten Feuerwehrauto und der langen Drachenrutsche, ehe ich mich seufzend im Schatten eines Baumes auf einer Parkbank niederlasse und meine Augen schließe, bis ich mich vollkommen beruhigt und entspannt habe.

Die Stimme singt mir leise Hirtenlieder vor und als dann auch noch die Sonne zum Vorschein kommt, öffne ich vergnügt die Augen, hole ich zufrieden lächelnd ein Sandwich aus meinem Rucksack und esse es laut schmatzend, während sich Krähen und Enten zu meinen Füßen versammeln und stumm ihre Vogelgöttern anflehen, dieser Kerl mitder blutigen Hand auf der Bank möge ihnen doch den einen oder anderen Krumen zuwerfen.

Der Reiher am anderen Ufer des Teichs macht Kwää! Kwää! und alles ist schön und friedlich und gut.

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