Sarma

„Deine Frau ist eine Bitch.“

Ich setze das Glas, das bereits an meiner Unterlippe klebt, abrupt wieder ab, drehe mich auf meinem Barstuhl zur Seite und werfe Tom einen erstaunten Blick zu.

„Ja, sorry, nicht die feine Englische… ist aber echt so. Die Alte ist einfach unmöglich!“. Er zuckt entschuldigend mit den Schultern.

Wir sitzen seit einer Stunde im Eastcoast und kosten uns durch unterschiedliche Rum-Cocktails durch. Sein Kommentar eben hat sicherlich etwas mit den vier vorangegangenen Drinks zu tun. Dass er sich derartig über Audrey auslassen würde, hätte ich nie von ihm gedacht. Aber er hat recht – meine Frau ist eine Bitch.

Wortlos und mit einem tiefen Seufzer drehe ich meinen Stuhl in Ausgangsposition und trinke mein Glas in einem Zug aus.

„Schau..“, beginnt Tom seine alkoholschwangere Erklärung „..sie ist ja hübsch und alles, keine Frage. Aber innendrin? Nur schlecht. Sie ist eine furchtbare Person, ich verstehe überhaupt nicht, wie du es bisher mit ihr aushalten konntest. Sie ist das perfekte Beispiel für Außen hui, innen pfui! Ich kann dir gar nicht sagen, wie zuwider es mir ist, dich bei euch daheim zu besuchen, wenn sie da ist! Du hast echt etwas Besseres verdient, Alter. Kein Scheiß.“

Ich kann ihm nicht widersprechen. Audrey sieht toll aus. Ihr Körper, ihr Gesicht – wie aus einem Katalog. Aber sobald sie den Mund öffnet, gibt sie meist nur irgendeine furchtbare Gemeinheit von sich. Die letzten Jahre habe ich damit verbracht, mir Ausreden zurechtzulegen, nur um sie nicht zu verlassen. Keine Ahnung, wie oft sie mir in dieser Zeit das Herz mit irgendeiner unüberlegten Meldung oder Aktion gebrochen hat. Irgendwie liebe ich sie auch noch.. auf meine Art. Als meine Mutter vor zwei Monaten starb, hatte ich kurz den Eindruck, dass es ihr tatsächlich leid tat. Möglicherweise war sie im Begriff sich zu ändern? Etwas menschlicher zu werden? Naja, oder auch nicht. Ach, es gab soviel, was Tom nicht von ihr wusste und das ich ihm vorenthielt. Es reichte ja schon, dass ich still und heimlich litt.

Wir kippen noch einige Drinks und ich mache mich dann, leicht torkelnd, auf den Heimweg. „Sei mir nicht böse!“, ruft Tom mir noch nach. „Deine Frau ist echt eine Bitch!“

Es ist noch gar nicht so spät, so gegen 9 Uhr abends. Ich drehe noch eine Extrarunde durch den Park, um auszustinken, ehe ich die Heimroute antrete. Audrey hasst es, wenn ich nach Bar rieche und ich habe heute echt keinen Bock auf einen ihrer Monologe. Ich spaziere langsam durch die Straßen und denke an meine Mutter und an ihr Verhältnis zu meinem Vater. Sie waren 37 Jahre verheiratet und ich kann mich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem sie sich nicht geliebt hätten. Meine Augen beginnen unangenehm zu brennen, als ich an sie denke und ich reibe mir verstohlen ein paar Tränen mit den Handknöcheln aus dem Gesicht, ehe ich bei meiner Haustür ankomme und aufsperre.

Zigarettenrauch wabert mir im Vorzimmer entgegen und ich höre mehrere laute Stimmen, darunter das gackernde Gelächter Audreys. Sie hat Besuch?! Als ich langsam ins Wohnzimmer gehe, sitzen mehrere Damen um den Couchtisch herum, rauchen Zigaretten und trinken Rotwein. Vermutlich schon eine ganze Weile, mehrere leere Flaschen stehen auf dem Tisch. Audrey zwinkert mir gönnerhaft zu und deutet einen Kuss mit den Lippen an, ohne ihren Satz zu unterbrechen, oder mich in irgendeiner Form zu begrüßen. Die anderen Damen sehen mich nur kurz an, nippen an ihren Gläsern und nicken zustimmend, gebannt von Audreys Erzählungen. Auch sie halten es für unnötig, mich zu begrüßen. Ich mache wortlos kehrt und gehe mit rotem Kopf in die Küche.

Als ich dort ankomme, bleibt mein Herz beinahe stehen.

Langsam nähere ich mich dem Topf, der auf der Kücheninsel steht. Der Deckel liegt achtsam daneben, in den gefüllten Weinblättern, die sich darin befinden, wurde lieblos herumgestochert und zu guter Letzt eine Zigarettenkippe hineingedrückt.

Scharfe Magensäure steigt langsam meine Speiseröhre hoch, als ich den Topf ansehe. Meine Hände ballen sich zu granitharten Fäusten und ich spüre, wie mir noch mehr Blut ins Gesicht schießt.

Meine Mutter hatte diese gefüllten Weinblätter gerollt und in diesen Topf geschichtet. Sie gab sie mir bei meinem letzten Besuch mit und meinte, ich könne sie gut einfrieren und wenn ich sie essen wollte, einfach mit heißem Wasser aufgießen und kochen. Ich hatte es nach ihrem Tod nicht übers Herz gebracht, sie einfach so nebenbei zu kochen und auf den richtigen Moment gewartet, sie zu essen.

Und nun lag das letzte Essen, das meine Mutter für mich gekocht hatte, vor mir. Lieblos zerfleddert, achtlos liegengelassen, entweiht von einer Zigarette. Ich spüre, mein Herz in tausend Splitter zerbrechen und ich drohe an der Magensäure zu ertrinken. Mit Tränen in den Augen mache ich kehrt und gehe ins Schlafzimmer. Wie auf Autopilot schnappe ich mir eine Sporttasche aus einer Lade und fülle sie mit Kleidungsstücken – Hosen, Unterwäsche, Shirts, Kapuzenpulli. Danach schnappe ich mir meinen Pass, gehe ins Vorzimmer und verlasse still und heimlich die Wohnung.

Die nächsten Stunden gehe ich still weinend und ziellos in der Gegend umher, bis ich in einem kleinen Park lande. Dort setze ich mich auf eine Parkbank und presse die Tasche fest gegen meine Brust.

Als die Sonne aufgeht, öffne ich verwirrt die Augen. Ich bin tatsächlich im Sitzen eingeschlafen. Ächzend richte ich mich auf und plötzlich fühle ich, wie mich eine unglaubliche Last auf die Parkbank zu drücken scheint. Die Schleusen meiner Augen öffnen sich erneut, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte und Tränen rinnen mir das Gesicht hinunter.

Und langsam, ganz langsam, fühle ich mich besser. Die Tränen versiegen irgendwann und die Last auf meinem Körper weicht einem Gefühl, das ich seit Jahren nicht mehr verspürt habe. Die Sonne wärmt mein nasses Gesicht und eine leichte Brise treibt ein wunderschönes Aroma von geschnittenem Gras und Blüten durch den Park. Ich tanke das Sonnenlicht durch meine geschlossenen Augenlider und atme tief ein und aus. Eine noch nie dagewesene Euphorie überkommt mich und ohne ersichtlichen Grund beginne ich schließlich zu lächeln.

Ja. Ich bin mir ziemlich sicher.

Alles. Wird. Gut.

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